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Am Thurme

Von

Ich steh‘ auf hohem Balkone am Thurm,
Umstrichen vom schreienden Staare,
Und laß‘ gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!

Und drunten seh‘ ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch,
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht‘ ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Wallroß, die lustige Beute!

Und drüben seh‘ ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht‘ ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen,
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.

Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir rathen;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
Und lassen es flattern im Winde!

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Gedicht: Am Thurme von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Am Thurme“ von Annette von Droste-Hülshoff thematisiert den inneren Konflikt einer Frau, die sich nach Freiheit, Abenteuer und Selbstbestimmung sehnt, jedoch in den gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit gefangen ist. Das lyrische Ich steht auf einem hohen Turm und blickt sehnsuchtsvoll in die weite, wilde Natur – der Turm wird dabei zum Symbol für die Isolation und das Eingeschlossensein.

In den ersten Strophen steigert sich die Naturbeschreibung zu einer romantischen Kraftvision: Der Sturm, die tobenden Wellen und das kämpfende Schiff symbolisieren das ungestüme Verlangen nach Freiheit und Abenteuer. Das lyrische Ich wünscht sich, mit dem Sturm zu ringen, sich in die Wellen zu stürzen oder selbst das Steuer eines Schiffes zu übernehmen. Die Natur dient hier als Spiegelbild der ungezähmten, inneren Leidenschaft und Energie, die ausgelebt werden will.

Besonders deutlich wird der Konflikt im letzten Vers, wo das lyrische Ich das eigene Geschlecht als Hemmschuh empfindet. Die Zeile „Wär ich ein Mann doch mindestens nur“ verweist auf die gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen des 19. Jahrhunderts, in denen Frauen zu einem sittsamen, passiven Leben gezwungen wurden. Der Wunsch nach dem „Jäger“, „Soldaten“ oder „Mann“ spiegelt die Hoffnung wider, dem gesellschaftlichen Korsett zu entkommen und aktiv am Leben teilnehmen zu können.

Das Gedicht drückt somit eine tiefe Frustration aus, die zwischen Natursehnsucht und gesellschaftlicher Begrenzung schwankt. Das lyrische Ich bleibt auf dem Turm gefangen und darf nur „heimlich“ das Haar lösen und es im Wind flattern lassen – ein kleiner Akt der Freiheit, der jedoch den eigentlichen Freiheitsdrang kaum stillen kann. So zeigt das Gedicht die Spannung zwischen innerem Aufbegehren und äußerer Einschränkung in einer patriarchalen Gesellschaft.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.