Erster Schnee
Fern, irgendwo im Himmelblau,
Ein sonderzartes Land.
Die Heiden weiß,
Besprossen lilaklare Primelblüten.
Blüten groß, offen erschlossen,
Augen, weite Augen, die an Tränen saugen,
Sanfte Augen, die ein Paradies behüten.
Mit weißen Fingern
Ein stilles Kind
Spielt mit den Primeln,
Lacht mit dem Wind.
Zaudernd auf schleichenden Zehen,
Über die Blüten,
Weiße Rudel
Von weißen Rehen.
Alles so licht und so eigen.
Einsam entblättert das Schweigen.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Erster Schnee“ von Max Dauthendey entwirft eine zarte, fast traumhafte Vision einer Winterlandschaft, in der Natur, Kindheit und eine stille Spiritualität ineinander übergehen. Bereits die ersten Zeilen eröffnen einen märchenhaften Raum „fern, irgendwo im Himmelblau“, der nicht geographisch, sondern eher seelisch oder mythisch verortet ist. Dieses „sonderzarte Land“ erscheint als eine Zwischenwelt – vielleicht ein inneres Paradies oder ein Bild des Übergangs zwischen Leben und Tod.
Die Beschreibung der „Heiden weiß“ mit „lilaklaren Primelblüten“ mischt typische Winterelemente mit Frühlingssymbolen. Die Primeln, eigentlich Frühlingsboten, stehen hier inmitten des Schnees, was eine Atmosphäre des Wunders, des Unwirklichen erzeugt. Diese Blüten werden zu „Augen“, die „an Tränen saugen“ – eine geheimnisvolle Metapher, die Trauer und Schönheit verbindet. Es sind „sanfte Augen“, die etwas Kostbares behüten – ein „Paradies“, das nicht laut, sondern durch stilles Dasein bewahrt wird.
Ein zentrales Motiv ist das „stille Kind“, das mit den Blüten spielt und mit dem Wind lacht. Es wirkt wie ein Wesen außerhalb der Welt, verbunden mit der Reinheit und Unschuld dieses traumhaften Ortes. In seiner Gegenwart erscheinen auch die „weißen Rudel von weißen Rehen“ – ein Bild für Anmut, Scheu und das Flüchtige. Die Bewegung ist „zaudernd“, „schleichend“, was die Sanftheit des ganzen Szenarios unterstreicht.
Am Ende kulminiert das Gedicht in einer Zeile, die die Stimmung verdichtet: „Einsam entblättert das Schweigen.“ Schweigen wird hier greifbar gemacht, fast wie eine Pflanze, die ihre Blätter verliert – ein starkes Bild für Vergänglichkeit, aber auch für das leise Offenbaren von etwas Innerem.
„Erster Schnee“ ist somit ein lyrisches Gemälde des Übergangs: zwischen Jahreszeiten, zwischen Kindheit und Ewigkeit, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Dauthendey gelingt es, eine poetische Welt zu erschaffen, in der Zartheit, Stille und Transzendenz miteinander verwoben sind.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.