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Ein Märchen

Von

Wollt ihr ein Märchen erlauschen?
Ein Märchen? – Ich weiß eines.

O so wunderbar fein, so zart.
Wollt‘ ich’s in Laute, in Töne gestalten,
Wäre jeder Laut, jeder Ton zu lauttönend.

Vorsicht! Behutsam!
Denkt leise!

Sonnenfunken – goldner Hauch –
Löscht ihn nicht – leise! leise!

Ein Garten, eine Gestalt – ein Mädchen.
Rings auf zitternden Schwingen Farben und Düfte,
Und mein Mädchen mitten in Farbe und Duft.
Schwarzgrüne Büsche stumm, atemstockend,
Und darunter Blütenherzen,
Wildrote pochende Herzen,
Pochend in hast’gem Genießen.

Sie singt.
Ihre Träume sind ihre Lieder.

Weiße Astern,
Blendende Astern,
Wie sie sich wiegen.
Und der Garten singt
Und die Büsche,
Alles, alles singt in Farben und Düften.

Starrst du auf Rosen,
Nimm dich in acht.
Rosen sengen, brennen,
Weißt du das!
Sie weiß nichts.
Ahnte sie nur die Glut,
Müsste sie zitternd erglühn.

Aber Flammen wärmen,
Und Wärme weckt Flammen.
O berühre nicht! – Fort! – Flieh!
O berühre sie nicht!

Zu spät!
Erschrick nicht, rette,
Rette aus Flammen den Duft.

Angstfahle Blässe knirscht,
Aber Reue zermalmt nicht.
Auf weißen Astern schwarze Erde.
Warum schwarze Erde?
Warum nicht der Tod?

Erde ist Leben.

Auf weißen Astern schwarze Erde. –
Das ist mein Märchen.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Ein Märchen von Max Dauthendey

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ein Märchen“ von Max Dauthendey entfaltet sich als eine dichte, symbolische Erzählung, die zwischen Schönheit und Gefahr, Leben und Tod schwankt. Der Erzähler beginnt mit der Einladung, ein „Märchen“ zu hören, und beschreibt es als etwas „wunderbar fein“ und „zart“, was den Charakter des Geschehens als etwas Geheimnisvolles und Ätherisches einführt. Die wiederholte Mahnung „leise! leise!“ deutet darauf hin, dass es sich um etwas Unaussprechliches handelt, das nur in sanften, fast unhörbaren Tönen wahrgenommen werden kann, wodurch das Märchen zu einer sehr sensiblen und zerbrechlichen Erfahrung wird.

Im Zentrum des Märchens steht ein Mädchen, das in einem Garten von „zitternenden Schwingen“ umgeben ist, die sowohl „Farben“ als auch „Düfte“ verbreiten. Dieser Garten scheint eine idyllische und fast himmlische Szenerie zu sein, in der die Natur in harmonischem Einklang mit dem Mädchen singt. Die „weißen Astern“ und die „wildroten pochenden Herzen“ symbolisieren eine üppige, sinnliche Welt des Lebens und der Leidenschaft, die sich im Einklang mit den „Traum-Liedern“ des Mädchens entfaltet. Die blühende Natur reflektiert ihre innere Welt und die unbeschwerte Freude, die sie empfängt.

Doch der Garten enthält auch Gefahr, und der Erzähler warnt davor, „Rosen“ zu starren, da sie „sengen“ und „brennen“ können. Diese Rosen symbolisieren die verführerische, aber gefährliche Seite des Lebens und der Leidenschaft. Das Mädchen, unschuldig und unwissend, ahnt nicht die Gefahr, die in dieser Glut lauert. Der plötzliche Umschwung von Schönheit zu Gefahr wird spürbar, als der Erzähler ruft, „O berühre sie nicht!“ Doch es ist zu spät: das Mädchen wird von den Flammen ergriffen. Die Warnung und der daraus resultierende Schmerz sind ein zentrales Thema, das das Märchen von einer idyllischen, fast paradiesischen Vorstellung zu einer tragischen Wendung führt.

Am Ende steht die Rückkehr zur Erde, die als „schwarze Erde“ beschrieben wird. Die Frage „Warum schwarze Erde? Warum nicht der Tod?“ verweist auf den Übergang von Leben zu Tod und die Idee, dass aus der Zerstörung neues Leben erwachsen kann. „Erde ist Leben“ stellt die Zyklen der Natur dar: die Geburt, das Leben, der Tod und die Erneuerung. Das Märchen endet mit dieser Weisheit, dass das Leben trotz aller Gefahren und Verluste weitergeht, und in dieser Wahrheit liegt sowohl eine Erkenntnis als auch ein Trost. Dauthendey verbindet in diesem Gedicht poetische Schönheit mit einer tiefen philosophischen Auseinandersetzung über die Zerbrechlichkeit des Lebens und die gleichzeitige Kraft der Erneuerung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.