Winter
Geduldig ist der Wald,
Behutsamer der Schnee,
Am einsamsten das Reh.
Ich rufe. Was erschallt?
Der Widerhall macht Schritte.
Er kehrt zurück zu seinem Weh:
Das kommt heran wie leise Tritte.
Er findet mich in meiner Mitte.
Warum hab ich den Wald gestört?
Vom Schnee ward nichts gehört.
Hat sich das Reh gescheut?
Wie mich das Rufen reut.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Winter“ von Theodor Däubler ist eine stille, eindringliche Meditation über Einsamkeit, Natur und die Folgen menschlicher Einwirkung. Es beginnt mit einer Beschreibung der winterlichen Landschaft, die durch ihre Ruhe und Zurückhaltung geprägt ist: „Geduldig ist der Wald“, „Behutsamer der Schnee“, „Am einsamsten das Reh“. Diese drei Beobachtungen zeichnen ein Bild von Natur, die in sich ruht – zurückhaltend, empfindsam und in gewisser Weise heilig.
Der Eingriff des lyrischen Ichs in diese Stille erfolgt durch einen Ruf – ein Akt der Selbstbehauptung, aber auch der Störung. Die Reaktion darauf ist nicht direkt, sondern vermittelt durch den „Widerhall“, der als eigenständige, beinahe unheimliche Figur erscheint. Er „macht Schritte“ und „kehrt zurück zu seinem Weh“. Hier wird der Widerhall zu einem Symbol für die innere Resonanz des Ichs – das Echo des eigenen Rufs wird zu einem Widerklang seelischen Schmerzes, der zurückkommt und das Ich findet „in seiner Mitte“.
Die letzten Zeilen zeigen Reue und Selbstreflexion. Das Ich fragt sich, ob es durch seinen Ruf das Reh – das Symbol der scheuen, reinen Natur – verschreckt hat. Es bleibt ungewiss, ob überhaupt eine Antwort kam, denn „vom Schnee ward nichts gehört“. Die Natur schweigt weiter, während das Ich sich plötzlich seiner eigenen Isolation und seiner Wirkung bewusst wird.
Däubler gelingt mit wenigen, fein gearbeiteten Versen ein intensives Stimmungsbild. Die Sprache ist knapp, fast spröde, was die karge, winterliche Atmosphäre unterstreicht. Gleichzeitig geht es um mehr als bloße Naturbeobachtung: Das Gedicht reflektiert über das Verhältnis von Mensch und Welt, über die Stille als Spiegel innerer Zustände und über die Zerbrechlichkeit jeder Verbindung. Der Winter wird so zum Raum der Selbstbegegnung – und der Reue.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.