Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , ,

Elend

Von

1

Die Luft ist wie verpestet,
Vergiftet, was ich seh‘,
Und alle Blicke sind Dolche
Und jedes Wort ein Weh.

Die Herzen sind verschlossen,
Erkennen mich nimmermehr;
Von Allen aber, von Allen
Verkennt mich am meisten er!

Und würd‘ ich’s ihm erzählen,
Ihm Alles sagen – o Gott!
Er würde auch dann noch lachen
Und ich – ich wäre todt!

2

Und bist Du auch so höhnisch mit mir,
Und siehst du mich auch nicht gern,
So ist es mir dennoch manches Mal
Als ständ‘ ich dir nicht so fern.

Als wären deine Gedanken
Dennoch öfter bei mir;
Und wenn ich so denke und sinne,
Dann treibt’s mich hin zu dir.

Ich stehe zitternd vor deinem Haus,
Mir ist, du müßtest mich holen;
Doch Niemand kommt und Niemand ruft –
Und weinend enteil‘ ich verstohlen.

3

Ist es nicht thöricht und kindisch schwach,
Wenn ich so seufze und schwärme
Und tugendhaft und thränenreich
Leib und Seele hinunter härme.

Das Gestern mag vergessen sein
Sammt allen dunklen Sorgen,
Das Heut‘ ist mein – und dieser Wein
Vergessen macht das Morgen.

4

Lebend unter Niedern und Rohen
Zieht’s mich mächtig empor zum Hohen;
Doch die Flügel beschwert mit Steinen,
Sink‘ ich auf’s neue herab zum Gemeinen.
Müde des Eklen und Kleinen
Eil‘ ich zu Orgien aus bitterer Noth –
Und so, begeistert vom Reinen,
Erstick‘ ich noch im Koth!

5

Daß im Herzen mir erstorben
Alle, alle guten Keime,
Daß vom Laster überfluthen
Meine Worte, meine Reime;
Daß in der entweihten Brust
Wüste Leidenschaften toben:
Menschen, das verdank‘ ich euch!
Teufel müssen euch belohnen!

6

Es giebt viel Elend in der Welt,
Viel tausend gebrochene Herzen;
An allen Ecken und Enden hallt
Der Aufschrei großer Schmerzen.

Ein Elend aber kenne ich –
Es kann kein größ’res geben;
Zwei kleine Worte schließen’s ein –
Es heißt: verfehltes Leben.

7

Hab‘ oft nicht zurecht mich gefunden
Da draußen im Gedränge,
Und oft auch wieder wurde
Die Welt mir fast zu enge.

Dann liebt‘ ich schnell und lebte schnell
Und schürte mein Verderben;
Der Pöbel johlte – ich lachte
Zu meinem lustigen Sterben.

8

So kommt und seht und staunt mich an!
Ich bin schon, die ihr sucht:
Das Wunderthier, das, noch so jung,
Die ganze Welt schon verflucht.

Doch fürchtet euch nicht, ich bin kein Thier,
Das Menschen zerreißt und verschlingt:
Ich bin ein armes Wesen nur,
Das von seinem Elend singt.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Elend von Ada Christen

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Elend“ von Ada Christen ist ein vielschichtiges, tief erschütterndes lyrisches Selbstporträt eines innerlich zerrissenen Ichs, das zwischen Verzweiflung, Sehnsucht, Stolz und Abscheu gegen sich und die Welt schwankt. In acht Abschnitten entfaltet die Autorin ein schonungsloses Bild seelischer und gesellschaftlicher Ausgrenzung, innerer Leere und zerstörerischer Leidenschaft. Die Sprache ist direkt, oft schneidend, dabei aber immer poetisch verdichtet.

Im ersten Teil dominiert die Wahrnehmung einer feindseligen Welt: Die Luft ist „verpestet“, Worte und Blicke sind verletzend. Besonders schmerzlich ist das Gefühl des Verkanntseins – vor allem durch eine bestimmte, offenbar geliebte Person. Diese Unfähigkeit zur Kommunikation steigert sich bis zur Vorstellung, dass selbst ein ehrliches Offenbaren nur Hohn hervorrufen würde. Die existenzielle Isolation wird hier radikal formuliert.

Die folgenden Abschnitte oszillieren zwischen Hoffnung und Ernüchterung. Eine zarte Sehnsucht keimt auf, wenn das lyrische Ich glaubt, trotz aller Kälte im Denken des Geliebten präsent zu sein – doch dieser Hoffnung folgt wieder Erniedrigung, Einsamkeit und Tränen. Auch der Versuch, sich mit Wein und Vergessen über das Leid hinwegzusetzen, bleibt ambivalent: Der Schmerz wird betäubt, aber nicht geheilt. Christen zeigt hier eine tiefe Zerrissenheit zwischen Lebensgier und Todesnähe.

Besonders eindrucksvoll ist der vierte Abschnitt, in dem das Streben nach dem „Hohen“ durch innere und äußere Beschwernisse immer wieder scheitert. Das Bild der „Flügel mit Steinen beschwert“ veranschaulicht die tragische Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit. Der Absturz in Orgien ist nicht Ausdruck von Genuss, sondern ein verzweifelter Versuch, dem „Eklen und Kleinen“ zu entkommen – eine Flucht, die letztlich in „Koth“ endet.

In den letzten Teilen verdichtet sich das Selbstbild des lyrischen Ichs zur Anklage an die Gesellschaft: Das moralische Scheitern wird nicht als individuelles Verschulden, sondern als Resultat der äußeren Umstände, der Verachtung und Kälte der Mitmenschen verstanden. Die Reime sind „vom Laster überfluthen“, das Herz „entweiht“. Das Wortpaar „verfehltes Leben“ in Strophe sechs wirkt wie eine bittere Bilanz. Dennoch bleibt ein Rest Selbstbewusstsein: Im abschließenden Teil bezeichnet sich das lyrische Ich als „Wunderthier“, das zwar verflucht, aber nicht gefährlich ist – vielmehr singt es von seinem Elend, als letzte Form der Würde.

Ada Christens „Elend“ ist ein schonungsloser, intensiver Ausdruck weiblicher Verzweiflung in einer feindlichen Welt. Es stellt gesellschaftliche Kälte, emotionale Verarmung und innere Zerrissenheit nebeneinander und lässt trotz aller Dunkelheit eine leise, stolze Stimme bestehen – eine Stimme, die gehört werden will, nicht um zu zerstören, sondern um zu überleben.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.