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Im Herbst
Niedrig schleicht blaß hin die entnervte Sonne,
Herbstlich goldgelb färbt sich das Laub, es trauert
Rings das Feld schon nackt und die Nebel ziehen
Über die Stoppeln.
Sieh, der Herbst schleicht her und der arge Winter
Schleicht dem Herbst bald nach, es erstarrt das Leben;
Ja, das Jahr wird alt, wie ich alt mich fühle
Selber geworden!
Gute, schreckhaft siehst du mich an, erschrick nicht;
Sieh, das Haupthaar weiß, und des Auges Sehkraft
Abgestumpft; warm schlägt in der Brust das Herz zwar,
Aber es friert mich!
Naht der Unhold, laß mich ins Auge ihm scharf sehn:
Wahrlich, Furcht nicht flößt er mir ein, er komme,
Nicht bewußtlos rafft er mich hin, ich will ihn
Sehen und kennen.
Laß den Wermutstrank mich, den letzten, schlürfen,
Nicht ein Leichnam längst, ein vergeßner, schleichen,
Wo ich markvoll einst in den Boden Spuren
Habe getreten.
Ach! ein Blutstrahl quillt aus dem lieben Herzen:
Fasse Mut, bleib stark; es vernarbt die Wunde,
Rein und liebwert hegst du mein Bild im Herzen
Nimmer vergänglich.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Im Herbst“ von Adelbert von Chamisso ist eine tiefmelancholische Reflexion über das Altern, das Vergehen der Zeit und die bewusste Annäherung an den Tod. Es verbindet die Naturbeobachtung des Herbstes mit der inneren Stimmung des lyrischen Ichs, das sich selbst im Spiegel der Jahreszeit erkennt. Der Wechsel der Jahreszeiten wird zur Metapher für den eigenen Lebensabend.
Die erste Strophe beschreibt die Natur in herbstlicher Düsternis: Die Sonne ist „entnervt“, das Laub vergilbt, das Feld leer, der Nebel zieht über die abgeernteten Stoppeln. Diese Bilder tragen eine leise Traurigkeit in sich, zeigen jedoch auch eine gewisse Würde im Verfall. Der Blick auf die Landschaft ist gleichzeitig ein Blick nach innen – denn im nächsten Vers erkennt sich das lyrische Ich im Jahreslauf: „Ja, das Jahr wird alt, wie ich alt mich fühle / Selber geworden!“
Im Mittelteil wendet sich das Ich direkt an eine nahestehende Person – „Gute“ –, um Verständnis und Nähe zu erbitten. Es beschreibt seine körperlichen Veränderungen mit nüchterner, beinahe schon resignierter Klarheit: weißes Haar, nachlassende Sehkraft, inneres Frösteln. Dennoch lebt das Herz weiter, es schlägt „warm“, auch wenn es von Kälte umgeben ist. Der Tod wird als „Unhold“ bezeichnet, doch nicht gefürchtet – das Ich will ihm ins Auge sehen, bewusst, ohne Verdrängung.
Besonders eindrucksvoll ist die Bitte, als lebender Mensch bis zuletzt zu bleiben – „nicht ein Leichnam längst, ein vergeßner“ –, sondern als jemand, der bis zum Schluss Spuren hinterlässt, der sich seiner Kraft und seiner Vergangenheit bewusst bleibt. Dies ist eine klare Absage an das Vergessenwerden, an ein lebloses Dahinwelken.
Am Ende kehrt das Gedicht zur Liebe zurück: Ein „Blutstrahl“ aus dem Herzen verweist auf Schmerz und Abschied, doch auch auf bleibende Verbundenheit. Die Erinnerung an das lyrische Ich soll im Herzen der Geliebten „rein und liebwert“ weiterleben – „nimmer vergänglich“. Der Tod wird so nicht als endgültiger Schnitt verstanden, sondern als Übergang, dem etwas Bleibendes entgegengesetzt wird: die Kraft der Liebe und Erinnerung.
„Im Herbst“ ist ein leises, reifes Gedicht, das den Lauf des Lebens ohne Illusionen, aber mit Würde betrachtet – und mit einer tief empfundenen Menschlichkeit dem Altern und Sterben begegnet.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.