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Gedanken bey dem Fall der Blätter im Herbst

Von

In einem angenehmen Herbst, bey ganz entwölktem heiterm Wetter,
Indem ich im verdünnten Schatten, bald blätterloser Bäume, geh‘,
Und des so schön gefärbten Laubes annoch vorhandnen Rest beseh‘;
Befällt mich schnell ein sanfter Regen, von selbst herabgesunkner Blätter.
Ein reges Schweben füllt die Luft. Es zirkelt, schwärmt‘ und drehte sich
Ihr bunt, sanft abwärts sinkend Heer; doch selten im geraden Strich.
Es schien die Luft, sich zu bemühn, den Schmuck, der sie bisher gezieret,
So lang es möglich, zu behalten, und hindert‘ ihren schnellen Fall.
Hiedurch ward ihre leichte Last, im weiten Luftkreis überall,
In kleinen Zirkelchen bewegt, in sanften Wirbeln umgeführet,
Bevor ein jedes seinen Zweck, und seiner Mutter Schooß, berühret;
Um sie, bevor sie aufgelöst, und sich dem Sichtlichen entrücken,
Mit Decken, die weit schöner noch, als persianische, zu schmücken.

Ich hatte diesem sanften Sinken, der Blätter lieblichem Gewühl,
Und dem dadurch, in heitrer Luft, erregten angenehmen Spiel,
Der bunten Tropfen schwebendem, im lindem Fall formiertem, Drehn,
Mit offnem Aug‘, und ernstem Denken, nun eine Zeitlang zugesehn;
Als ihr von dem geliebten Baum freywilligs Scheiden {da durch Wind,
Durch Regen, durch den scharfen Nord, sie nicht herabgestreifet sind;
Nein, willig ihren Sitz verlassen, in ihren ungezwungnen Fällen}
Nach ernstem Denken, mich bewog, sie mir zum Bilde vorzustellen,
Von einem wohlgeführten Alter, und sanftem Sterben; Die hingegen,
Die, durch der Stürme strengen Hauch, durch scharfen Frost, durch schwehren Regen
Von ihren Zweigen abgestreift und abgerissen, kommen mir,
Wie Menschen, die durch Krieg und Brand und Stahl gewaltsam fallen, für.

Wie glücklich, dacht‘ ich, sind die Menschen, die den freywillgen Blättern gleichen,
Und, wenn sie ihres Lebens Ziel, in sanfter Ruh‘ und Fried‘, erreichen;
Der Ordnung der Natur zufolge, gelassen scheiden, und erbleichen!

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Gedicht: Gedanken bey dem Fall der Blätter im Herbst von Barthold Hinrich Brockes

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Gedanken bey dem Fall der Blätter im Herbst“ von Barthold Hinrich Brockes verbindet eine präzise Naturbeobachtung mit einer tiefgründigen Reflexion über das Alter und das Sterben. Ausgehend von einem herbstlichen Spaziergang unter fast entlaubten Bäumen wird der langsame, stille Fall der Blätter zum Ausgangspunkt einer allegorischen Deutung des Lebensendes.

Zunächst beschreibt Brockes mit großer Aufmerksamkeit und poetischer Feinfühligkeit das sanfte Schweben der Blätter in der klaren Herbstluft. Die herabfallenden Blätter tanzen nicht einfach zu Boden, sondern werden von der Luft in Wirbel und Kreisbewegungen geführt. Dieses „liebliche Gewühl“ wird nicht als Verfall, sondern als Schönheit erlebt – fast wie ein zierlicher, farbenprächtiger Tanz. Die Luft scheint das Vergehen hinauszuzögern, als wolle sie sich vom sommerlichen Schmuck nicht trennen.

In der Betrachtung dieses natürlichen Vorgangs erkennt der Sprecher eine tieferliegende Bedeutung. Die freiwillig vom Baum gelösten Blätter, die ohne äußeren Zwang und ohne Gewalt zur Erde sinken, erscheinen ihm als Bild für ein würdiges, friedliches Lebensende. Dies steht im Kontrast zu jenen Blättern, die durch Sturm, Frost oder Regen gewaltsam vom Ast gerissen werden – sie symbolisieren Menschen, die ihr Leben unter Leid oder durch Gewalt verlieren.

Brockes nutzt also das jahreszeitliche Bild des Laubfalls, um über den menschlichen Tod nachzudenken – aber nicht in resignativer, sondern in bewundernd-nachdenklicher Haltung. Er lobt das „wohlgeführte Alter“ und den „sanften Tod“ im Einklang mit der Natur. Damit knüpft er an ein christlich-naturphilosophisches Weltbild an, in dem der Mensch Teil der göttlichen Ordnung ist und sein Leben idealerweise in Ruhe und Harmonie beschließt.

Das Gedicht veranschaulicht auf eindrucksvolle Weise, wie Naturbeobachtung zu existenzieller Einsicht führen kann. Es ist ein meditatives, ruhiges Gedicht, das den Gedanken an das Lebensende nicht verdrängt, sondern in Schönheit fasst. In seiner Sprache, die zugleich bildhaft und philosophisch ist, lädt es dazu ein, Vergänglichkeit nicht als Schrecken, sondern als natürlichen, würdevollen Teil des Lebens zu begreifen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.