Trennungen in dieser Zeit
Was bleibt mir, wenn wir von einander scheiden?
Auch du siehst etwas bleich aus schwarzem Wagen,
Noch einmal zu mir her, von Qualm beschlagen –
Weiß winkt die Einsamkeit, ein bleibend Leiden.
Was lebt in mir, wenn wir Lebwohl uns sagen,
Verschiednen Tons? Die großen Räder schneiden
Bald die verschlungnen Hände durch, uns beiden,
Denn alle Uhren schlagen Abschied, schlagen –
Was denke ich? Hier endlich nicht mehr denke!
Denn alles schwebt – Minuten schön – Geschenke –
Es ist so schmerzlich gut, dich noch zu sehn.
Und du? Die fremde Welt kanns doch verstehn,
Dass auch die Männer manchmal weinen müssen,
Ja, sie erlaubt am Bahnhof, dich zu küssen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht Trennungen in dieser Zeit von Alfred Wolfenstein thematisiert den schmerzlichen Abschied zweier Liebender vor dem Hintergrund einer anonymen, modernen Welt. Die Szene spielt an einem Bahnhof – einem Ort, der im Expressionismus oft als Symbol für Bewegung, Entfremdung und Beschleunigung der Zeit steht. Im Zentrum steht die emotionale Zerrissenheit des lyrischen Ichs, das zwischen Nähe und Verlust, zwischen Gefühl und gesellschaftlicher Erwartung schwankt.
Die erste Strophe beschreibt den Moment der Trennung mit großer Eindringlichkeit: Der schwarze Wagen, vermutlich ein Zug, wird zur Kulisse des Abschieds, der Rauch („von Qualm beschlagen“) symbolisiert dabei sowohl das physische Davonfahren als auch das Verschwimmen der vertrauten Nähe. Die Einsamkeit wird als weiß winkende Gestalt personifiziert – ein bleibendes, fast ironisch inszeniertes „Leiden“, das sich im Kontrast zum romantischen Abschiedsbild durch seine Kälte und Dauerhaftigkeit auszeichnet.
In der zweiten Strophe wird der Abschied weiter dramatisiert: Die „großen Räder“ schneiden nicht nur symbolisch die „verschlungnen Hände“ der Liebenden entzwei, sondern auch die gemeinsame Zeit und Vertrautheit. Der Klang der Uhren, der „alle Uhren schlagen Abschied“, wird zur allgegenwärtigen, unentrinnbaren Mahnung des Endes. Die äußere Zeit dominiert die innere Welt – ein typisches Motiv für das expressionistische Lebensgefühl, das vom Verlust individueller Kontrolle über das eigene Schicksal geprägt ist.
Die dritte Strophe vollzieht einen inneren Bruch. Das lyrische Ich versucht, sich dem Denken zu entziehen – „Hier endlich nicht mehr denke!“ –, und gibt sich einem flüchtigen Glück hin: „Minuten schön – Geschenke“. Inmitten des Schmerzes gibt es einen letzten Moment des Glücks, des gegenseitigen Sehens, der trotz allem als „schmerzlich gut“ empfunden wird. Der Widerspruch zwischen Trauer und intensiver Gegenwartserfahrung wird bewusst gehalten.
In der letzten Strophe wechselt der Ton ins Persönlich-Reflektierte. Das lyrische Ich stellt sich die Perspektive der anderen vor, fragt „Und du?“, und erkennt die gesellschaftliche Erwartungshaltung, die Gefühle – insbesondere bei Männern – oft unterdrückt. Der Schlussvers jedoch bietet eine kleine Form von Versöhnung: Die Welt, so kühl und fremd sie auch ist, „erlaubt am Bahnhof, dich zu küssen“. Dieser letzte Augenblick von Intimität und Menschlichkeit im öffentlichen Raum bildet einen stillen Trost.
Trennungen in dieser Zeit ist ein stilles, doch intensives Gedicht über den Schmerz des Abschieds in einer entfremdeten Welt. Wolfenstein verbindet individuelle Emotion mit gesellschaftlichem Kontext, und die Sprache changiert dabei zwischen Pathos und Lakonie, zwischen innerer Zerrissenheit und äußerer Ordnung – ganz im Geiste des Expressionismus.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.