Das Herz
Vergessen lag das Herz in unsrer Brust,
Wie lange! ein Kiesel in des Willens Lust,
Nur mit den wasserkühlen spiegelnden Händen
Manchmal berührt, unbewusst.
Einsiedlerisch in sich geschweift, so klein
Und überflüssig dem verzerrten Stein
Der Bauten und des Geldes stählernem Throne,
Nie greifend in die spitzen Räder ein.
Doch seht, wie leiser die Maschine raucht,
Und endlich ist das Schneegebirg verbraucht,
Der kalte Strom wütet vorüber –
Denn glühend blüht das Land, das nun auftaucht,
Das Herz – das schmal wie eine Sonne brennt,
Doch Sterne nun nach seinen Strahlen nennt,
Das kleine Herz blickt unermesslich
Aus seines offenen Hauptes Firmament!
O Stirn, das Zeichen dieses Herzens trag,
Und Nacht, steh heller auf von seinem Schlag!
Es fasst die breite Erde um – und über die Ränder
Der Welt hinaus strahlt er den Tag.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Herz“ von Alfred Wolfenstein beschreibt eine tiefgreifende Metamorphose des menschlichen Herzens, das sich von einer vergessenen, unbedeutenden Instanz zu einer glühenden, überweltlichen Kraft entwickelt. Zu Beginn wird das Herz als „vergessen“ und „ein Kiesel in des Willens Lust“ beschrieben, was auf seine Entfremdung und das Fehlen einer wahrhaftigen Bedeutung hinweist. Es liegt in der Brust, „unbewusst“ berührt, wie ein Objekt, das keine aktive Rolle im Leben des Sprechers spielt. Diese Darstellung deutet auf eine Entfremdung von der eigenen emotionalen Tiefe hin, die von der kalten Rationalität des „Willens“ verdrängt wird.
Im zweiten Abschnitt wird das Herz als „einsiedlerisch“ und „klein“ charakterisiert, was seine Isolierung und Bedeutungslosigkeit im Kontext der modernen Welt unterstreicht. Der „verzerrte Stein der Bauten“ und der „stählerne Thron des Geldes“ repräsentieren die kühlen, mechanischen Kräfte der Gesellschaft, die das Herz als unnötig oder unbedeutend erscheinen lassen. Das Bild des Herzens, das „nie greifend in die spitzen Räder ein“ kommt, verweist auf seine Entfremdung von den gesellschaftlichen Strukturen, die von Kapitalismus und Maschinen bestimmt sind.
Die Veränderung des Herzens wird jedoch eingeleitet, als die „Maschine“ leise raucht und das „Schneegebirg verbraucht“ ist. Diese Umwälzung signalisiert eine Wendung: Der kalte, mechanische Fluss der Welt ist nicht mehr in der Lage, das Leben vollständig zu bestimmen. Stattdessen beginnt das „Land“ zu blühen, was die Wiederbelebung des Herzens als eine lebendige, pulsierende Kraft anzeigt. Das Herz wird „glühend“, es brennt „wie eine Sonne“ und wird zu einer Quelle von Energie und Licht.
Im letzten Abschnitt erreicht das Herz eine überweltliche Dimension. Es blickt „unermesslich“ aus seinem „offenen Hauptes Firmament“ und wird zu einem symbolischen Zentrum des Universums. Die „Stirn“ und die „Nacht“ stehen hier für das Bewusstsein und die Zeit, die nun von diesem Herzen bestimmt werden. Das Bild des Herzens, das die „breite Erde umfasst“, zeigt seine umfassende Macht und die Fähigkeit, über die Grenzen der Welt hinaus zu strahlen. Das Gedicht endet mit der Vision eines Herzens, das nicht nur das Leben transformiert, sondern das Universum in Bewegung setzt – eine kraftvolle, leuchtende Quelle des Lebens und der Veränderung.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.