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Dämmerung

Von

Wenn die Sonne schlafen gangen
Und die goldne Spur verweht,
An der Wimper Wolken hangen –
Durch die Welt ein Seufzer geht.

Weiter tragen ihn die Lüfte,
Weiter rauschet ihn der Wald,
Weiter strömen ihn die Düfte,
Dass die Schöpfung widerhallt;

Und die Tiere bang sich bergen
Und der Vogel sucht sein Nest,
Furchtlos vor dem nächt’gen Schergen
Eilt die Eule schon zum Fest.

Und der Mensch im Busen fühlet
Sich so wunderbar bewegt,
Weiß nicht, was im Herzen wühlet,
Weiß nicht, was den Seufzer regt.

Dämmerungsschatten niederhangen,
Schöpfungsauge geht zu Ruh‘,
Seines Strahles hehres Prangen
Decken schwarze Schleier zu.

Doch, eh‘ ganz es von uns scheidet,
Weilt es einen Augenblick,
Ob den Tag – die nacht es meidet –
Sinket müde dann zurück.

Horch! kein Atem weht im Kreise,
Keine Wunde blutet mehr,
Gute Geister wandeln leise,
Balsam streuend, hin und her.

Tiefer senken sich die Schatten,
Legen weich sich um die Welt;
Rings die Wipfel, rings die Matten
Süßer Wahn umfangen hält.

Alle sehen ihn erglänzen,
Der der Finsternis erlag,
Neu erstehn in Purpurkränzen,
Alle träumen sich den Tag.

Legtest du die weiche Binde,
Gottheit, um des Menschen Haupt;
Dass er nie getäuscht sich finde,
wenn er ewig, ewig glaubt?

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Gedicht: Dämmerung von Mathilde Wesendonck

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht Dämmerung von Mathilde Wesendonck beschreibt in ruhigen, lyrisch fließenden Bildern den Übergang vom Tag zur Nacht, den das lyrische Ich nicht nur als äußeres Naturphänomen, sondern auch als seelische Erfahrung und metaphysische Frage erlebt. Die einsetzende Dunkelheit wird zum Anlass einer stillen Reflexion über Vergänglichkeit, Trost und Glauben.

Der Gedichtbeginn schildert den Moment, in dem die Sonne untergeht: Die goldene Spur des Lichts verweht, Wolken hängen wie Wimpern über der Welt, ein poetisches Bild der Ermüdung und des Abschieds. Mit dem Sonnenuntergang geht ein „Seufzer“ durch die Welt – ein atmosphärisch aufgeladener Ausdruck, der gleichzeitig Naturbewegung und emotionale Resonanz meint. In dieser Wahrnehmung verschmilzt das Äußere mit dem Inneren: Die Dämmerung wird zur Stimmung, die durch Lüfte, Wälder und Düfte getragen wird und die gesamte Schöpfung berührt.

Die dritte und vierte Strophe zeigen, wie alle Lebewesen auf diese Wandlung reagieren. Während sich Tiere verbergen und Vögel ihr Nest suchen, nimmt die Eule – ein klassisches Symbol für Nacht und Weisheit – furchtlos ihren Platz ein. Auch der Mensch wird innerlich bewegt, spürt etwas Unerklärliches „im Busen“, eine seelische Unruhe, die eng mit dem Dämmerungszustand verknüpft ist. Der Tag weicht, aber was folgt, ist nicht bloß Dunkelheit, sondern eine Phase des Übergangs, der Ahnung, des Zwischenraums.

In den folgenden Strophen verdichtet sich die Nacht: Die „Schöpfung“ kommt zur Ruhe, „schwarze Schleier“ verdecken das Licht, aber noch verweilt es einen Augenblick, als wolle es nicht ganz gehen. In dieser Schwebe entsteht eine fast mystische Atmosphäre – „kein Atem weht“, „keine Wunde blutet mehr“, gute Geister bringen Trost. Die Nacht erscheint nicht als bedrohlich, sondern als heilend und tröstend. Es ist ein Zustand stiller Hoffnung und transzendenter Verwandlung.

Die Schlussstrophe stellt eine metaphysische Frage: Kann es sein, dass Gott dem Menschen eine „weiche Binde“ umlegt, damit er im Glauben nicht enttäuscht werde? Es ist ein inniger Wunsch nach einer Wahrheit jenseits der Dunkelheit, nach einem Glauben, der nicht trügt. Das Gedicht endet also nicht in Resignation, sondern in einer tastenden, doch hoffnungsvollen Geste: Die Dämmerung ist nicht bloß Ende, sondern vielleicht auch ein Anfang – der Traum vom Tag, der neu ersteht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.