Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , ,

An die Mutter

Von

I.

Im Träume sah am Bette
Ich jüngst die Mutter stehn,
So wie sie zu den Kindern
Pflegt‘ abendlich zu gehen.

Sie strich mit ihren Händen
Die Linnen glatt und fein,
Und nahm die weichen Decken
Und hüllt‘ mich fester drein.

Sie küsste mir die Augen,
Sie küsste mir den Mund;
Ich war so froh und wähnte,
Sie sei nun ganz gesund.

Doch als ich drauf erwachte,
Da ward mir’s wieder klar.
Dass sie vor vielen Monden
Ja schon gestorben war.

II.

Ich war ein Kind und spielte
Mit Spielzeug mancherlei,
Wenn man zu Bett mich brachte,
Da sangen sie Eiapopei.

Nun bin ich groß geworden,
Das Spielen ist vorbei,
Und ob ich schlaf‘, ob wache,
Ist alles einerlei.

III.

Wie möchte‘ ich doch so gerne
Einmal zur Mutter gehen,
Ihr in das liebe Antlitz
Und in die Augen sehn.

Ich eil‘ in ihre Kammer,
Hu! die ist kalt und leer;
Mich deucht, hier schlug schon lange
Kein liebend Herze mehr!

Die lieben trauten Augen,
Sie hat sie zugemacht,
Sie winken nur im Träume
Mir schweigend: gute Nacht.

IV.

Geh‘ heim zu deinen Kindern
Und lass‘ die Mutter ruhn;
Soll es dein Weh dir mindern,
Versuch’s, ihr nachzutun.

Sie barg ihr stilles Weinen
Im großen Mutterherz,
Und trat sie zu den Kleinen,
So war’s mit Laun‘ und Scherz.

V.

Grabt ein Grab,
Doch nicht klein darf es sein:
Mutter-Liebe legt hinein.
Mutter-Segen wollet hegen,
Hehren Herzens rein.

Wälzt darauf
Einen Stein, hart und fein,
Urne soll ihm Krone sein.
Kindes-Sehnen, Kindes-Tränen
Schließe sie mit ein.

VI.

Mochte deine Liebe,
Mächtigster der Triebe,
Kalt vom Leben ab
Wenden sich ins Grab?

Nein, es blieb die Liebe
Mächtigster der Triebe,
Nur den Herz erlag,
Als der Tod es brach.

Siegreich über’m Grabe
Thronet, hehrste Gabe,
Mächtigster der Triebe,
Mutter, deine Liebe.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: An die Mutter von Mathilde Wesendonck

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht An die Mutter von Mathilde Wesendonck ist ein vielteiliges lyrisches Requiem, das in zarten, melancholischen Bildern den Tod der Mutter, die anhaltende Kraft ihrer Liebe und die tiefe Bindung zwischen Mutter und Kind thematisiert. In sechs Abschnitten entfaltet sich eine Entwicklung vom schmerzhaften Verlust über die Erinnerung bis hin zur transzendierenden Kraft mütterlicher Liebe.

Im ersten Teil wird in einem traumähnlichen Szenario die fürsorgliche Mutter noch einmal lebendig: Sie besucht das lyrische Ich im Schlaf, streicht das Bett zurecht, gibt Küsse – ein Moment inniger Geborgenheit. Doch das Erwachen bringt die bittere Realität zurück: Die Mutter ist längst verstorben. Der Kontrast zwischen Traum und Wirklichkeit verstärkt die Trauer und zugleich die tiefe Sehnsucht nach der mütterlichen Nähe.

Die zweite und dritte Strophe greifen das Thema Kindheit und Verlust direkt auf. Das Spielen ist vorbei, der Schlaf hat seine tröstende Funktion verloren – alles erscheint sinnlos. Die Leere der mütterlichen Kammer symbolisiert endgültig das Fehlen des Herzens, das einst dort schlug. Die Wiederbegegnung mit der Mutter ist nur noch im Traum möglich, und selbst dort bleibt sie stumm, fern – eine fast geisterhafte Präsenz, die nur noch winkt: „gute Nacht“.

In der vierten Strophe kommt ein Perspektivwechsel: Das lyrische Ich wird auf sich selbst zurückgeworfen, soll nun selbst in die Rolle der Mutter treten. Die Erinnerung an die Stärke der Mutter, die ihr eigenes Leid verbarg, um für ihre Kinder da zu sein, wird zum moralischen Appell. Mütterliche Liebe zeigt sich hier nicht nur als Gefühl, sondern als Haltung: selbstlos, tröstend, standhaft.

Die fünfte und sechste Strophe steigern sich in einen hymnischen Ton. Das Grab der Mutter soll nicht klein sein, denn es muss die Größe ihrer Liebe fassen. Kindliche Trauer, Sehnsucht und Tränen sollen mit eingeschlossen werden – eine Art sakraler Ort der Erinnerung und des Segens. Schließlich wird die Liebe der Mutter als „mächtigster der Triebe“ gefeiert, der sogar den Tod überdauert. Diese Liebe bleibt bestehen, selbst wenn das Herz nicht mehr schlägt – sie thront über dem Grab, unvergänglich, wie eine heilige Kraft.

An die Mutter ist somit eine zarte und doch eindringliche lyrische Verarbeitung von Verlust, Erinnerung und seelischer Bindung. Die Sprache bleibt schlicht und gefühlvoll, getragen von tiefem Respekt und Liebe. Am Ende steht nicht nur die Trauer, sondern auch ein Trost: die Erkenntnis, dass echte Mutterliebe stärker ist als der Tod.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.