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Der Abendstern

Von

Alle Freud‘ und Trauer, o du holdselig
Wesen, so voll züchtigen Lichts und süßer
Keuscher Klarheit, wohnet in dir, im sanften
Sterne der Liebe.

Schön warst du, wenn einsam der Dichter oftmals
Seines Baches Erlen entlang im Thale,
Ach mit düstrem Sinnen und namenloser
Sehnsucht gewandelt.

Schön warst du, als endlich dies Herz gestillt war,
Als ein Auge, schwarz wie des Himmels lautre
Tiefe Nacht, aufblickte mit mir zum lieben
Sterne der Liebe!

Schön warst du, als träumend mit großen Menschen
Großen Freunden, schwärmend in Vorgefühlen
Künft’gen Ruhms, das Auge voll Gluth in deinem
Strahle sich kühlte.

Schön warst du, als endlich mein Schicksal nahte.
Als ich mehr verlor, denn ein Mensch gewinnen
Kann, kehrt‘ oft wehmüthig zurück im stillen
Sterne die Liebe.

Doch am schönsten dünkst du mir wohl vor Allem
Wenn ich oft im Schmerz und der Trauer meiner
Einsamkeit, in Schutt und in Säulentempeln
Heimathlich wandle,

Und zumal dein freundliches Licht des schwarzen
Colosseums Schauern, wie eine Seele
Ihrem Grab am Tag des Gerichts, entstrahlt, o
Stern du der Liebe.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Abendstern von Wilhelm Waiblinger

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Abendstern“ von Wilhelm Waiblinger ist eine poetische Hymne auf den Abendstern als Symbolfigur der Liebe, Erinnerung und inneren Einkehr. Der Stern wird in wechselnden Lebenslagen immer wieder zum Begleiter des lyrischen Ichs – nicht nur als Naturphänomen, sondern als seelischer Bezugspunkt, der Trost spendet, Gefühle bündelt und Bedeutung verleiht. Waiblinger greift damit ein klassisch-romantisches Motiv auf, das himmlische Licht als Spiegel innerer Zustände zu deuten.

Von Beginn an erscheint der Abendstern als Inbegriff stiller Schönheit, „voll züchtigen Lichts und süßer / Keuscher Klarheit“. Diese fast vergeistigte Darstellung kontrastiert mit der seelischen Tiefe, die das Gedicht entfaltet: Der Stern steht nicht nur für Liebe, sondern auch für „Freud‘ und Trauer“ – also für die ganze Bandbreite menschlichen Empfindens. Das lyrische Ich durchwandert mit ihm verschiedene Lebensphasen, in denen der Stern stets präsent ist.

In mehreren Rückblenden erinnert sich das lyrische Ich an frühere Begegnungen mit dem Stern: beim einsamen Wandeln im Tal, in der Erfahrung erfüllter Liebe („ein Auge, schwarz wie des Himmels lautre / Tiefe Nacht“) oder in leidenschaftlichen Gesprächen mit großen Freunden. Der Stern wird zum stillen Zeugen dieser prägenden Momente – sowohl des Erblühens als auch des Verlusts. Besonders eindrücklich ist die Passage über die Nähe des „Schicksals“, das mehr nimmt, „denn ein Mensch gewinnen / Kann“. Auch hier bleibt der Stern als Konstante bestehen, nun aber wehmütig und tröstend.

Im letzten Abschnitt findet das Gedicht zu seiner stärksten Bildsprache: Das Licht des Sterns fällt über das düstere, verlassene Kolosseum – ein Symbol zerfallener Größe und Einsamkeit. Doch gerade in dieser Umgebung wird der Stern zum Hoffnungsträger, fast zur Seele, die „ihrem Grab am Tag des Gerichts“ entsteigt. Die Verbindung zwischen Natur, Geschichte und Innerlichkeit erreicht hier ihren Höhepunkt. Der Stern verwandelt das Monument des Verfalls in einen Ort stiller Erhebung.

Waiblinger gelingt es in diesem Gedicht, die romantische Vorstellung von Natur als Spiegel der Seele mit persönlichen Erfahrungen von Liebe, Verlust und geistiger Suche zu verbinden. Der Abendstern wird zum poetischen Mittelpunkt eines Lebens, das sich in wechselnden Lichtverhältnissen zwischen Hoffnung und Melancholie bewegt. Möchtest du weitere Gedichte von Waiblinger zu Natur oder innerer Einkehr lesen?

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.