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Nebenan

Von

Es raschelt so im Nebenzimmer
im zweiten Stock, 310 –
ich sehe einen gelben Schimmer,
ich höre, doch ich kann nichts sehn.
Lacht eine Frau? spricht da ein Mann?
ich halte meinen Atem an –
Sind das da zwei? was die wohl sagen?
ich spüre Uhrgetick und Pulse schlagen…
Ohr an die Wand. Was hör ich dann
von nebenan -?

Knackt da ein Bett? Rauscht da ein Kissen?
Ist das mein Atem oder der
von jenen… alles will ich wissen!
Gib, Gott, den Lautverstärker her -!
Ein Stöhnen; hab ich’s nicht gewusst…
Ich zecke an der fremden Lust;
ich will sie voller Graun beneiden
um jenes Dritte, über beiden,
das weder sie noch er empfinden kann…
„Marie -!“
Zerplatzt.
Ein Stubenmädchen war nur nebenan.

War ich als Kind wo eingeladen -:
nur auswärts schmeckt das Essen schön,
Bei andern siehst du die Fassaden,
hörst nur Musik und Lustgestöhn.
Ich auch! ich auch! es greift die Hand
nach einem nicht vorhandenen Land:
Ja, da -! strahlt warmer Lampenschimmer.
Ja, da ist Heimat und das Glück.
In jeder Straße lässt du immer
ein kleines Stückchen Herz zurück.
Darfst nie der eigenen Schwäche fluchen;
musst immer nach einem Dolchstoß suchen.
Ja, da könnt ich in Ruhe schreiben!
Ja, hier -! hier möcht‘ ich immer bleiben,
in dieser Landschaft, wo wir stehn,
und ich möchte nie mehr nach Hause gehn.

Schön ist nur, was niemals dein.
Es ist heiter, zu reisen, und schrecklich, zu sein.
Ewiger, ewiger Wandersmann
um das kleine Zimmer nebenan.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Nebenan von Kurt Tucholsky

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Nebenan“ von Kurt Tucholsky thematisiert auf eindringliche Weise die menschliche Sehnsucht nach dem Anderen, dem Unerreichbaren – sei es Liebe, Glück oder Geborgenheit. In einer Mischung aus Voyeurismus, Melancholie und Selbstreflexion beschreibt das lyrische Ich das Geschehen im Nachbarzimmer, das zur Projektionsfläche für eigene unerfüllte Wünsche wird. Der Anfang ist von Spannung und Neugier geprägt: Geräusche, Schatten, undeutliche Stimmen – die Vorstellungskraft übernimmt die Regie.

Die sinnliche Aufladung des Moments – das Knacken des Bettes, das Rauschen des Kissens, das vermutete Stöhnen – steigert sich bis zum Höhepunkt, der mit einem simplen „Stubenmädchen“ jäh enttäuscht wird. Diese Wendung ist typisch für Tucholskys Ironie: Das große Drama, das sich in der Vorstellung abspielt, entpuppt sich als banale Alltagsszene. Doch diese Enttäuschung führt nicht zu Ernüchterung, sondern zu einer tiefer gehenden Reflexion über das eigene Leben und die ständige Suche nach einem „anderen“, besseren Ort.

Im zweiten Teil weitet sich die Perspektive: Die Beobachtung von „nebenan“ wird zum Symbol für das dauerhafte Gefühl von Fremdheit und Nichtzugehörigkeit. Das Bild des Kindes, das „auswärts“ eingeladen ist und dort alles schöner empfindet, bringt die Grunderfahrung des Dichters auf den Punkt: Das Glück scheint immer woanders zu sein. Diese emotionale Wanderlust wird begleitet von einer resignativen Einsicht – „Schön ist nur, was niemals dein“. Die Welt wird nicht als Ort der Ankunft, sondern als ständiger Fluchtpunkt erlebt.

Am Ende steht das Bild des „ewigen Wandermanns“, der ruhelos und getrieben bleibt, immer auf der Suche nach dem kleinen, ersehnten Glück „nebenan“. Das Gedicht ist eine melancholische Meditation über Sehnsucht, Entfremdung und das Gefühl des Verlorenseins in einer Welt, in der Erfüllung stets nur schemenhaft hinter der nächsten Wand aufscheint. Tucholsky verbindet dabei fein beobachtete Alltagsdetails mit einer tiefen existenziellen Unruhe, die seine Zeit ebenso wie seine persönliche Lebenshaltung widerspiegelt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.