Nächtliche Unterhaltung
Der Landgerichtsdirektor schnarchte im Bett.
Seine Garderobe lag – ziemlich komplett –
auf dem Stuhl. Die Nacht war so monoton…
Da machten die Kleider Konversation.
„Ich“, sagte die Jacke, „werde ausgezogen.
Ich hänge – ungelogen –
im Beratungszimmer
und habe keinen Schimmer,
was mein Alter da treibt.“
„Wir sprechen Recht!“ sagte die Weste.
„Aber feste -!
Wir schnauzen die Angeklagten an –
wir benehmen uns wie ein Edelmann.
Wir verbieten allen sofort den Mund
und reden uns selber die Lippen wund.
Wir verhängen über Wehrlose Ordnungsstrafen
(nur, wenn wir Beisitzer sind, können wir schlafen).
Zum Schluss verknacken wir. Ohne Scherz.
Unter mir schlägt übrigens kein Herz.“
„Wir“, sagten die Hosen, „wir haben’s schwer.
Neulich kam der Landgerichtspräsident daher
und hat revidiert. Er saß an der Barriere,
und es ging um unsre ganze Karriere.
Vor uns ein Kommunist. Da haben wir wie wild
geschmettert, geschnattert, gestampft und gebrüllt.
Aber wie es manchmal so geht hienieden:
der Präsident war’s noch nicht zufrieden.
Und da blieb uns die ganze Rechtswissenschaft weg,
und da bekamen wir einen mächtigen Schreck.
Und zum Schluss besahen wir uns den Schaden:
Wir Hosen hatten es auszubaden!“
So sprachen die Kleider in dunkler Nacht
und haben sich Konfidenzen gemacht.
An der Wand aber hing ein stiller Hut,
dem waren die Kleider gar nicht gut.
„Erzähl was, Hut! Erzähl uns was!“
Der Hut aber sprach verlegen: „Das –
das wird nicht gehn.
Ich armer Tropf
ich sitze nämlich bei dem auf dem Kopf.
Und so hab ich, ihr müsst mich nicht weiter quälen,
nicht das geringste zu erzählen -!“
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Nächtliche Unterhaltung“ von Kurt Tucholsky ist eine satirische Parabel, in der Kleidungsstücke eines Landgerichtsdirektors in der Nacht zum Leben erwachen und über ihren Alltag und die juristische Welt, in der sie getragen werden, sprechen. In verspielter Form und mit beißender Ironie übt Tucholsky Kritik am Justizwesen und am autoritären, selbstgefälligen Verhalten seiner Vertreter.
Die Kleider – Jacke, Weste, Hose und schließlich der Hut – stehen dabei symbolisch für die Rollen, Funktionen und Machtgesten des Trägers. Die Jacke äußert zunächst Verwirrung über das Tun ihres Besitzers – sie wird lediglich „ausgezogen“ und hat keinen Einblick in die Entscheidungen, die im Beratungszimmer getroffen werden. Diese Distanz steht für die fehlende Menschlichkeit und Transparenz in der Justiz.
Die Weste hingegen übernimmt mit Stolz die Stimme der Justiz. Sie beschreibt, wie man Angeklagte „anschnauzt“, Ordnungsstrafen verhängt und sich in der Rolle des Edelmanns gefällt. Besonders zynisch ist die Bemerkung, dass unter der Weste „kein Herz“ schlägt – eine klare Metapher für die Gefühllosigkeit und Kälte, mit der die Justiz in bestimmten Fällen urteilt. Der formale Apparat erscheint als Maschinerie ohne Empathie.
Die Hose schildert ein konkretes Beispiel: eine Gerichtsverhandlung gegen einen Kommunisten, in der man sich demonstrativ energisch zeigt – doch der Präsident ist unzufrieden, und plötzlich kippt die Situation. Das Bild der Hosen, die „es auszubaden“ haben, verweist ironisch auf die Verlegenheit und die Angst, wenn die inszenierte Autorität infrage gestellt wird. Es ist eine Kritik an der Unsicherheit hinter der Fassade juristischer Macht.
Am Ende wendet sich die Aufmerksamkeit dem Hut zu, der – anders als die anderen Kleidungsstücke – keine Geschichten erzählen will. Er sitzt direkt „auf dem Kopf“ des Richters, ist also seinem Denken und Blick am nächsten, aber bleibt still. Seine Verlegenheit und sein Schweigen können als Hinweis darauf verstanden werden, dass dort, wo eigentlich Denken und Verantwortung liegen sollten, ebenfalls Leere herrscht – oder zumindest keine selbstkritische Reflexion.
„Nächtliche Unterhaltung“ ist ein humorvolles, zugleich bitteres Gedicht über die Maskenhaftigkeit von Autorität und die Mechanismen der Macht im Justizsystem. Tucholsky gelingt es, durch die Vermenschlichung von Kleidung eine tiefere Wahrheit über das Verhalten von Menschen in Institutionen aufzudecken – mit scharfem Witz und sprachlicher Leichtigkeit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.