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Die arme Frau

Von

Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
Du lieber Gott, da seid mir still!
Ein Don Juan? Ein braver, schlichter
Bourgeois – wie Gott ihn haben will.

Da steht in seinen schmalen Büchern,
wie viele Frauen er geküsst;
von seidenen Haaren, seidenen Tüchern,
Begehren, Kitzel, Brunst, Gelüst…
Liebwerte Schwestern, lasst die Briefe,
den anonymen Veilchenstrauß!
Es könnt ihn stören, wenn er schliefe.
Denn meist ruht sich der Dicke aus.

Und faul und fett und so gefräßig
ist er und immer indigniert.
Und dabei gluckert er unmäßig
vom Rotwein, den er temperiert.

Ich sah euch wilder und erpichter
von Tag zu Tag – ach! lasst das sein!
Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
In Büchern: ja
Im Leben: nein.

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Gedicht: Die arme Frau von Kurt Tucholsky

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die arme Frau“ von Kurt Tucholsky ist eine bissige Satire auf die Diskrepanz zwischen künstlerischer Pose und realem Charakter eines gefeierten Dichters – aus der entlarvenden Perspektive seiner Ehefrau. In nur wenigen Strophen gelingt es Tucholsky, das Bild eines Mannes zu zeichnen, der sich in seinen literarischen Werken als leidenschaftlicher Liebhaber inszeniert, im echten Leben jedoch als bequemlicher, selbstzufriedener Spießer entlarvt wird.

Schon in der ersten Strophe wird der Gegensatz zwischen dem öffentlichen Bild („Don Juan“) und der privaten Realität („braver, schlichter / Bourgeois“) auf ironische Weise aufgedeckt. Die Frau wendet sich mit spöttischem Ton an das Publikum, das offenbar in den Dichter eine erotische oder charismatische Figur hineinliest. Sie stellt dem eine ernüchternde Sicht entgegen: Der Mann, der in Versen von Sehnsucht und Verführung schreibt, ist im Alltag „faul und fett und so gefräßig“ – ein grotesker Kontrast zur dichterischen Selbstinszenierung.

Besonders deutlich wird Tucholskys Spott in der Beschreibung der körperlichen Trägheit des Mannes: Während in seinen Büchern von Leidenschaft die Rede ist, „ruht sich der Dicke aus“ und „gluckert unmäßig / vom Rotwein“. Das Bild eines sinnlichen Künstlers wird durch kleinbürgerliche Bequemlichkeit ersetzt. Diese Ironie wird durch die direkte Ansprache an „liebwerte Schwestern“ und die Erwähnung der „anonymen Veilchensträuße“ verstärkt – auch das Publikum wird so zur Zielscheibe der Satire, weil es dem literarischen Schein glaubt.

Die letzte Strophe bringt das ganze Gedicht auf den Punkt: „Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter? / In Büchern: ja / Im Leben: nein.“ Diese lakonische Schlussformel entlarvt die Spannung zwischen Ideal und Realität, zwischen Kunst und Leben. Tucholsky thematisiert damit nicht nur die Selbsttäuschung des Dichters, sondern auch die Leichtgläubigkeit der Leser und die Ernüchterung einer Frau, die hinter die Kulissen des künstlerischen Mythos blicken muss.

„Die arme Frau“ ist eine pointierte, bitter-komische Charakterstudie und zugleich eine literarische Abrechnung mit männlicher Selbstinszenierung. In wenigen Versen entfaltet sich eine komplexe Kritik an Scheinheiligkeit, Eitelkeit und der Kluft zwischen literarischem Anspruch und gelebtem Alltag.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.