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Ein deutscher Postillion

Von

Es fuhr der Herr von Zavelstein
Gar lustig in die Welt hinein,
Und vor ihm auf dem Kutscherthron
Saß Michel hoch als Postillion,
Ein Kern als wie ein Riese.
Und fort gings durch den Böhmerwald,
Da plötzlich tönt ein donnernd: Halt!
Zwei Räuber nahn; doch kämpft voll Mut
Der edle Herr, schon fließt sein Blut
Aus mancher tiefen Wunde.

Der Postillion schaut ruhig drein,
Da ruft der Herr von Zavelstein:
„Nehmt alles, nur gerbt mir dem Hund
Dort auf dem Bock das Fell erst wund,
Der mich so feig verlassen!“.

Ein Ruck – und Michel stürzt vom Bock,
Auf seinem Rücken tanzt der Stock,
Es trifft ihn mächtig Streich auf Streich,
Doch stets bleibt seine Ruh sich gleich,
Als müßt ers eben leiden.

Auf einmal aber reckt er sich,
Und immer höher streckt er sich,
Und jetzt ein Schlag und noch ein Schlag,
Und blutend auf dem Boden lag
Vor ihm das Raubgesindel.

„Was!“ rief der Herr von Zavelstein,
„Du toller Narr, was fiel dir ein?
Erst läßt du mich in Not, du Wicht,
Dann hälst du still und wehrst dich nicht,
Und dann erschlägst du beide!?“

„Herr!“ sprach der Michel voller Ruh,
„Erst schaut ich dem Spektakel zu;
Doch als mirs selbst ans Leder ging
Und das mich an zu jucken fing,
Da bin ich warm geworden.

Und seht, wenn ich erst einmal warm,
Dann juckts gewaltig mich im Arm.
Dann werd ich voller Gall und Gift,
Und wohin meine Faust dann trifft,
Da wächst kein Grashalm wieder!“

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Gedicht: Ein deutscher Postillion von Julius Karl Reinhold Sturm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht Ein deutscher Postillion von Julius Karl Reinhold Sturm erzählt in balladenhafter Form eine humorvolle, zugleich charakteristisch deutsche Heldengeschichte, die mit Ironie und Volkstümlichkeit spielt. Im Mittelpunkt steht Michel, der scheinbar faule und feige Kutscher, der sich letztlich als überraschend kampfstark erweist – wenn auch aus eigenem Antrieb.

Die Handlung ist klar strukturiert: Der Herr von Zavelstein reist durch den Böhmerwald, als er überfallen wird. Er kämpft tapfer, während sein Kutscher Michel – eine allegorische Figur, die den „deutschen Michel“ verkörpert – ungerührt auf dem Kutschbock sitzen bleibt. Empört fordert der Herr, dass man Michel für seine Feigheit züchtigt. Der Kutscher erträgt die Prügel regungslos – bis ihn selbst „das Jucken“ packt. Dann allerdings schlägt er mit solcher Wucht zurück, dass er beide Räuber erschlägt.

Die Figur des Michel ist vielschichtig: Er wirkt zunächst apathisch, ja beinahe feige, doch sein Verhalten folgt einer eigenen Logik. Er greift nicht aus Loyalität oder Pflichtbewusstsein ein, sondern erst, als er persönlich betroffen ist. Diese Haltung kann als satirischer Kommentar auf die deutsche Mentalität gelesen werden: eine gewisse Trägheit oder Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Unrecht, die erst dann in Tatkraft umschlägt, wenn die eigene Haut in Gefahr ist.

Der Gedichtschluss liefert eine überraschende Wendung. Michel erklärt mit ruhiger Selbstverständlichkeit sein Verhalten – und formuliert eine Art Lehre: Seine Kraft ist enorm, aber sie muss durch eigenes Leiden aktiviert werden. Das Bild vom „Grashalm“, der dort nicht mehr wächst, wo seine Faust trifft, verstärkt auf drastisch-überzogene Weise den Eindruck seiner physischen Gewalt. Zugleich bleibt das Ganze in einem augenzwinkernden Ton gehalten, der Michel eher als Typus denn als realistische Figur erscheinen lässt.

Ein deutscher Postillion vereint also Volksnähe, Humor und politische Allegorie. Die ironische Darstellung des „deutschen Michel“ als schwerfälliger, aber unbesiegbarer Kraftmensch vermittelt ein ambivalentes Bild nationaler Identität: zwischen Passivität und plötzlicher Entschlossenheit, zwischen stoischer Ruhe und gewaltsamer Energie. Das Gedicht ist somit eine amüsante, aber nicht unkritische Reflexion über deutsches Selbstverständnis im 19. Jahrhundert.

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Lizenz und Verwendung

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