Der Kuss
Es regnet – doch sie merkt es kaum,
weil noch ihr Herz vor Glück erzittert:
Im Kuss versank die Welt im Traum.
Ihr Kleid ist nass und ganz zerknittert
und so verächtlich hochgeschoben,
als wären ihre Knie für alle da.
Ein Regentropfen, der zu Nichts zerstoben,
der hat gesehn, was niemand sonst noch sah.
So tief hat sie noch nie gefühlt –
so sinnlos selig müssen Tiere sein!
Ihr Haar ist wie zu einem Heiligenschein zerwühlt –
Laternen spinnen sich drin ein.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Kuss“ von Wolfgang Borchert beschreibt die intensiv erlebte, fast übernatürliche Freude und das Eintauchen in einen Moment der Leidenschaft und des Glücks. Die Eröffnung mit dem Regen, der „doch sie kaum merkt“, stellt die Welt um sie herum als nebensächlich dar. Der Regen, der in der Realität präsent ist, scheint im inneren Erleben der Frau keine Rolle zu spielen, da sie vollständig in den emotionalen Zustand des Glücks und der Ekstase versunken ist. Dies wird durch den „Kuss“ als zentrales Element verstärkt, der als eine Erfahrung dargestellt wird, die die Welt um sie herum in einen „Traum“ verwandelt.
Die Beschreibung ihres Kleides als „nass und ganz zerknittert“ könnte eine Metapher für den Verlust der äußeren Ordnung und Kontrolle durch die überwältigenden Gefühle sein. Ihre Erscheinung ist zwar unordentlich, aber sie steht in krassem Gegensatz zu der inneren Euphorie, die sie empfindet. Der „Regentropfen“, der „zu Nichts zerstoben“ ist, symbolisiert die Vergänglichkeit und die Intimität des Moments. Der Tropfen „sieht, was niemand sonst noch sah“, was darauf hinweist, dass dieser Augenblick einzigartig und nur im privaten Raum der Zweisamkeit wirklich erlebbar ist.
In der nächsten Strophe wird die Empfindung des lyrischen Ichs weiter vertieft, indem es den Zustand der „sinnlos seligen Tiere“ anspricht. Diese Zeile kann als Vergleich zwischen der Unschuld und Instinktivität der Tiere und der intensiven, bedingungslosen Freude des lyrischen Ichs verstanden werden. Es wird eine rein körperliche und unreflektierte Art von Glück beschrieben, die von der Realität losgelöst und fast instinktiv ist. Das Bild des zerwühlten Haars, das zu einem „Heiligenschein“ wird, verstärkt die Vorstellung von einer überirdischen Erfahrung, als sei sie im Moment des Glücks fast transzendent.
Am Ende des Gedichts führt Borchert das Bild der „Laternen“, die sich in ihrem Haar verfangen, ein. Dieses Bild symbolisiert möglicherweise das Licht der Stadt oder der Welt, das im Moment der Liebe und Ekstase mit dem Haar verwoben wird, was wiederum die Verschmelzung von innen und außen, von persönlichen Gefühlen und der äußeren Welt darstellt. Insgesamt thematisiert „Der Kuss“ die Flucht aus der Realität und die Erhebung in einen Zustand reiner Glückseligkeit, der sowohl zeitlich als auch räumlich begrenzt ist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.