Dämmerung
Hell weckt Dunkel
Dunkel wehrt Schein
Der Raum zersprengt die Räume
Fetzen ertrinken in Einsamkeit!
Die Seele tanzt
Und
Schwingt und schwingt
Und
Bebt im Raum
Du!
Meine Glieder suchen sich
Meine Glieder kosen sich
Meine Glieder
Schwingen sinken sinken ertrinken
In
Unermeßlichkeit
Du!
Hell wehrt Dunkel
Dunkel frißt Schein!
Der Raum ertrinkt in Einsamkeit
Die Seele
Strudelt
Sträubet
Halt!
Meine Glieder
Wirbeln
In
Unermeßlichkeit
Du!
Hell ist Schein!
Einsamkeit schlürft!
Unermeßlichkeit strömt
Zerreißt
Mich
In
Du!
Du!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Dämmerung“ von August Stramm ist ein intensives sprachliches Erleben des Übergangs, des inneren und äußeren Auflösens, das sich zwischen Licht und Dunkel, zwischen Selbst und Du, zwischen Körper und Raum vollzieht. In der typischen Sprachexplosion des Expressionismus verdichtet Stramm das Empfinden von Identitätsverlust und Sehnsucht in suggestive Einzelbilder, die sich zu einem emotionalen Strudel verbinden.
Bereits der erste Vers – „Hell weckt Dunkel“ – deutet auf das paradoxe Ineinandergreifen gegensätzlicher Kräfte hin. Licht und Finsternis stehen sich nicht nur gegenüber, sie durchdringen einander. Der Raum, der in der Folge „die Räume zersprengt“, verliert seine Stabilität. Dies ist ein Sinnbild für das Aufbrechen innerer Ordnungen, für die Entgrenzung des Ichs. Die Welt erscheint zersplittert, fragmentiert – wie die „Fetzen“, die „in Einsamkeit ertrinken“.
Das lyrische Ich erfährt sich als in Auflösung begriffen: Die „Glieder“ handeln selbstständig – sie „suchen sich“, „kosen sich“, „wirbeln“ – und werden zunehmend Teil eines raumlosen, körperlosen Zustands. Der zentrale Begriff der „Unermeßlichkeit“ kehrt mehrfach wieder und steht für eine Erfahrung jenseits des Messbaren, jenseits der Sprache. In diesem unendlichen Raum verliert sich das Subjekt – nicht passiv, sondern in einer Mischung aus Ekstase, Selbstverlust und Begehren, stets begleitet von der Anrufung: „Du!“
In der letzten Strophe steigert sich die Spannung dramatisch. Die Begriffe „strömt“, „zerreißt“, „Mich / In / Du!“ bringen den Moment der völligen Auflösung – das Ich wird nicht nur erschüttert, es wird durch das „Du“ ersetzt. Die ekstatische Unermeßlichkeit des Erlebens führt zu einer finalen Verschmelzung, die nicht mehr zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet.
„Dämmerung“ ist somit ein Gedicht über die seelische und körperliche Grenzerfahrung, über das Versinken im Anderen, über die Auflösung von Raum, Zeit und Ich-Grenzen. August Stramm bringt dies in einer eruptiven, verdichteten Sprache zum Ausdruck, die nicht beschreibt, sondern unmittelbar wirkt – als Ausdruck einer ekstatischen, fast mystischen Erfahrung von Liebe, Einsamkeit und Selbstauflösung.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.