Nachtklage
Ein holder Jüngling, sagen uns die Alten,
Erscheint allnächtlich an der Ruhestätte,
Er neigt sich sinnbethörend übers Bette,
Still weiß er mit des Mohnes Kraft zu walten.
Das ist der Schlaf, er glättet alle Falten,
Zerreißt des Lebens ew’ge Bilderkette,
Und, dass er von des Tags Getrieb‘ uns rette,
Führt er den Reigen süßer Traumgestalten.
Ich sah ihn lange nicht, es naht statt seiner
Ein ander Bild mir schon seit vielen Nächten,
Ein holdes Mägdlein ist es anzusehen.
Doch nicht erbarmt es, wie der Schlaf, sich meiner,
Und, lächelt’s gleich aus dunkeln Lockenflechten,
In Angst und Liebesschmerz muss ich vergehen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Nachtklage“ von Gustav Schwab thematisiert die transformative Kraft des Schlafes und den schmerzhaften Übergang von einem Zustand der Ruhe zu einem der unruhigen Sehnsucht und des Leidens. Zu Beginn des Gedichts beschreibt Schwab den Schlaf als einen „holden Jüngling“, der mit der „Kraft des Mohnes“ sanft über das Bett eines Menschen hinweggeht und die Sorgen des Lebens für eine Weile vertreibt. Der Schlaf wird hier als heiliger, rettender Prozess dargestellt, der die „Falten“ des Lebens glättet und den Menschen von den „ewigen Bilderketten“ des Alltags befreit. Dies vermittelt eine Atmosphäre der Ruhe und des Trostes, die der Schlaf dem Menschen bietet.
Die zweite Strophe vertieft dieses Bild, indem Schwab den Schlaf als eine Art mütterliche oder göttliche Kraft beschreibt, die den Tag und seine „Getriebe“ für die Nacht vertreibt. Der Schlaf führt „den Reigen süßer Traumgestalten“ und gibt dem Menschen für eine kurze Zeit eine Flucht aus der Realität, die durch Sorgen und die Erschöpfung des Tages geprägt ist. Hier erscheint der Schlaf als ein Akt der Erneuerung, der den Menschen wiederherstellt und seine Energien für den nächsten Tag auffüllt.
In der letzten Strophe vollzieht sich jedoch ein dramatischer Wechsel. Statt des „holden Jünglings“, der den Schlaf bringt, tritt nun „ein ander Bild“ in die Nacht des lyrischen Ichs. Es handelt sich um ein „holdes Mägdlein“, das jedoch nicht die gleiche beruhigende und heilende Wirkung wie der Schlaf hat. Diese Figur, die vermutlich eine Metapher für unerwiderte Liebe oder Sehnsucht ist, führt das Ich in einen Zustand der Angst und des „Liebesschmerzes“. Während der Schlaf als Rettung dargestellt wird, bringt das „Mägdlein“ nur weiteres Leid, das den Dichter in seinem inneren Konflikt und seinen unerfüllten Gefühlen fangen lässt.
Das Gedicht endet mit einer bitteren Erkenntnis: Während der Schlaf den Menschen von den Härten des Lebens befreien kann, bleibt der Schmerz der unerwiderten Liebe eine Quelle des Leids, die nicht durch süße Träume geheilt werden kann. Schwab zeigt auf diese Weise die Dualität der Nacht – sie kann sowohl eine Quelle des Trostes als auch des Schmerzes sein, abhängig von den inneren Kämpfen, die der Mensch in ihr führt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.