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Das Gewitter

Von

Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
In dumpfer Stube beisammen sind;
Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt
Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl –
Wie wehen die Lüfte so schwül!

Das Kind spricht: „Morgen ist’s Feiertag,
Wie will ich spielen im grünen Hag,
Wie will ich springen durch Thal und Höh’n,
Wie will ich pflücken viel Blumen schön;
Dem Anger, dem bin ich hold!“ –
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?

Die Mutter spricht: „Morgen ist’s Feiertag,
Da halten wir alle fröhlich Gelag,
Ich selber ich rüste mein Feierkleid;
Das Leben es hat auch Lust nach Leid,
Dann scheint die Sonne wie Gold!“-
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?

Großmutter spricht: „Morgen ist’s Feiertag,
Großmutter hat keinen Feiertag,
Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid,
Das Leben ist Sorg‘ und viel Arbeit;
Wohl dem, der tat, was er sollt‘!“-
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?

Urahne spricht: „Morgen ist’s Feiertag,
Am liebsten morgen ich sterben mag:
Ich kann nicht singen und scherzen mehr,
Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer,
Was tu‘ ich noch auf der Welt?“ –
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?

Sie hören’s nicht, sie sehen’s nicht,
Es flammet die Stube wie lauter Licht:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl miteinander getroffen sind,
Vier Leben endet ein Schlag –
Und morgen ist’s Feiertag.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das Gewitter von Gustav Schwab

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Gewitter“ von Gustav Schwab schildert in eindringlicher Bildsprache und dramatischer Steigerung den plötzlichen Tod von vier Generationen einer Familie während eines Gewitters. Dabei verbindet Schwab eine scheinbar harmlose Alltagsszene mit einem jähen, unentrinnbaren Naturereignis und führt so die Brüchigkeit menschlicher Existenz eindrucksvoll vor Augen.

Zu Beginn des Gedichts sitzen vier Frauen unterschiedlicher Generationen – Urahne, Großmutter, Mutter und Kind – gemeinsam in einer Stube. Die Szene wirkt friedlich, fast idyllisch: Das Kind spielt, die Mutter bereitet sich auf einen Feiertag vor, die Großmutter arbeitet, und die Urahne sitzt still hinter dem Ofen. Diese ruhige Ausgangslage kontrastiert stark mit den bedrohlichen Naturzeichen, die sich in jeder Strophe durch die Frage „Hört ihr’s, wie der Donner grollt?“ oder „Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?“ einschleichen und das Unheil ankündigen.

Jede der vier Figuren äußert Gedanken über den kommenden Feiertag, wobei ihre Perspektiven sinnbildlich für unterschiedliche Lebensphasen stehen: das Kind mit Freude und Unschuld, die Mutter mit Lebenslust, die Großmutter mit Pflichterfüllung, die Urahne mit Todessehnsucht. So entsteht ein kleines Generationenpanorama, in dem Schwab die verschiedenen Einstellungen zum Leben in wenigen Versen pointiert darstellt.

Die wiederholte Ankündigung des Feiertags wird dabei zur bitteren Ironie. Der ersehnte Tag kommt nicht, denn in einem einzigen Moment werden alle vier vom Blitz erschlagen. Die letzte Strophe entfaltet diesen Umschlag ins Tragische mit schockierender Plötzlichkeit: „Vier Leben endet ein Schlag“. Der „Feiertag“ wird nicht zum Fest, sondern zum Tag des Todes – das Unausweichliche trifft alle gleich, ungeachtet ihres Alters oder ihrer Lebenshaltung.

Schwabs Gedicht ist ein Beispiel für die moralisch-didaktische Tendenz der Biedermeierzeit, aber es bleibt weit mehr als eine Mahnung zur Vergänglichkeit. Es zeigt in dichter Form, wie unvorhersehbar und radikal Natur und Schicksal in menschliches Leben eingreifen können. Die klare Sprache, die stille Steigerung und die eindrucksvolle Schlusswendung machen „Das Gewitter“ zu einer eindringlichen Reflexion über Zeit, Leben und Tod.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.