Mißdeutung
A.
Der Bundestag hat wie ein Leu gebrüllt.
Seid ihr von Grausen, Deutsche, nicht erfüllt?
Macht euch gefaßt auf unerhörte Dinge!
Er geht umher und sucht, wen er verschlinge.
B.
Nicht doch! Es war kein Brüllen, wie ihr wähnt.
Der Bundestag hat nur sehr laut gegähnt;
Denn auf der Bärenhaut der Protokolle
Sich wälzend, spielt er schlafend seine Rolle.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Mißdeutung“ von August Wilhelm Schlegel setzt sich mit der Wahrnehmung und Interpretation von politischen Ereignissen auseinander. Es zeigt, wie die öffentliche Wahrnehmung und die tatsächliche Bedeutung von Handlungen oder Äußerungen unterschiedlich sein können. Schlegel nutzt dabei eine humorvolle und zugleich kritische Perspektive auf die Politik und deren Rezeption durch die Gesellschaft.
Im ersten Teil des Gedichts (A) wird der Bundestag metaphorisch als „Leu“ beschrieben, der „brüllt“. Diese bildhafte Darstellung weckt im Leser die Vorstellung von einem mächtigen und bedrohlichen politischen Körper, der mit einer starken und ungestümen Stimme agiert. Die Menschen, „die Deutschen“, werden aufgefordert, sich auf „unerhörte Dinge“ vorzubereiten, was die Spannung und die Erwartung einer großen und dramatischen Veränderung verstärken soll. Der „Leu“ als Symbol für Macht und Wildheit wird hier als Warnung vor einer bevorstehenden Krise oder Umwälzung eingesetzt.
Im zweiten Teil (B) erfolgt eine entgegengesetzte Deutung der gleichen Situation. Der Bundestag wird nicht mehr als brüllender Leu, sondern als ein schlafender Politiker dargestellt, der „nur sehr laut gegähnt“ hat. Anstatt einer kraftvollen, bedrohlichen Handlung, wie im ersten Abschnitt angedeutet, zeigt sich die Realität als harmloser, eher passiver Akt des „Gähnens“ und „Schlafens“. Die „Bärenhaut der Protokolle“, auf der sich der Bundestag wälzt, ist eine ironische Darstellung der politischen Routine, in der wenig tatsächliche Action oder Veränderung stattfindet. Der Bundestag spielt hier lediglich seine „Rolle“ in einer vorbestimmten politischen Ordnung, ohne echte Entscheidungen oder Handlungen zu treffen.
Das Gedicht kritisiert somit auf humorvolle Weise die politische Entfremdung und die Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen Macht von Institutionen und ihrer tatsächlichen Wirkung. Es stellt die Frage nach der Authentizität und der Wirksamkeit politischer Handlungen, indem es eine potenziell dramatische politische Situation als bloße Routine entlarvt. Schlegel nutzt hier die Missdeutung als Mittel, um auf die Passivität und die Enttäuschung vieler Bürger über die politische Klasse hinzuweisen, die in der Realität nicht die „Löwen“ sind, die sie oft vorgeben zu sein, sondern eher „schlafende“ Akteure in einem System, das keine bedeutenden Veränderungen bringt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.