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Lied

Von

Kann ich denn an diesem Ort‘
Auf des schönen Hügels Spitzen,
Wo der ungestüme Nord
Kaum mich lässet sitzen,
Lauter nichts beständigs sehn?
Muß es gehn
Schneller als die Blitzen?

Ach, wo bleibt das edle Laub
Dieser hocherhabnen Eichen?
Wird es nicht der Winde Raub,
Welchen es muß weichen?
Muß nicht auch der Gärten Zier
Sterben schier
Und von hinnen schleichen?

Kann die Flut nicht stille stehn?
Muß sie hin und wider schweben?
Ach, was wird denn wol geschehn
Unserm schwachen Leben!
Seht, die flügelschnelle Zeit
Wil bereit
Uns ein Grabmal geben.

Dieser Herbst der lehret mich,
Daß auf Erden nichts zu finden,
Das nicht durch den Todesstich
Müsse bald verschwinden;
Alles fleugt wie leichtes Heu,
Ja wie Spreu
Für den starken Winden.

Nun, Parnassus, gute Nacht!
Es ist aus mit meinem Spielen.
Hab‘ ich Vers‘ auf dir gemacht,
Die der Welt gefielen,
Fort nicht mehr; ich wil in Ruh‘
Immerzu
Nach dem Himmel zielen!

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Gedicht: Lied von Johann Rist

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Lied“ von Johann Rist behandelt die Vergänglichkeit allen irdischen Lebens und die Einsicht, dass nur das Streben nach dem Himmel, nach dem Ewigen, Bestand hat. Ausgangspunkt ist eine Naturbeobachtung: Auf einem Hügel sitzend, wird der Sprecher Zeuge, wie Wind und Herbst die Natur verändern, das Laub von den Bäumen reißen und die Schönheit der Gärten zerstören. Diese Beobachtungen führen ihn zu einer allgemeinen Reflexion über die Unbeständigkeit der Welt.

Rist verwendet klare, anschauliche Bilder wie das rasche Vergehen des Laubs, die unstete Bewegung des Wassers und den Vergleich der menschlichen Existenz mit Spreu im Wind. Damit wird die Macht des Todes und die Unaufhaltsamkeit des Verfalls eindrucksvoll verdeutlicht. Die Natur wird nicht romantisiert, sondern als Symbol des fortwährenden Wechsels und der Unsicherheit des irdischen Lebens dargestellt.

Im letzten Teil des Gedichts zieht der Sprecher eine Konsequenz aus seiner Erkenntnis: Er verabschiedet sich von der weltlichen Kunst („Parnassus“ als Symbol der Dichtung) und kündigt an, sich künftig ganz auf das Göttliche zu richten. Der Wechsel von irdischem Schaffen zum himmlischen Streben spiegelt die typisch barocke Haltung wider, in der Vanitas (Vergänglichkeit) und Carpe diem (Bewusstsein der kurzen Lebenszeit) eng miteinander verwoben sind.

Durch den einfachen, liedhaften Stil und die direkte Ansprache entwickelt Rist eine eindringliche, fast andächtige Stimmung. Das Gedicht vereint Naturbeobachtung, philosophische Besinnung und religiöse Ausrichtung zu einer eindrucksvollen Darstellung der barocken Weltsicht. Möchtest du noch eine knappe Einordnung, wie typisch dieses Gedicht für die Barockdichtung insgesamt ist?

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.