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Der traurige Onkel

Von

Wundre dich nicht, wenn ich meine,
Weil ein Mensch doch dann und wann
Trotz des besten Willens seine
Sorgen nicht verbergen kann.

Nimm aus meiner Schreibtischlade
Den Revolver mir nicht fort,
Auch das Gift nicht. Und verrate
Niemandem davon ein Wort.

Und du selber sollst nicht weinen,
Wenn du über mich was liest,
Oder wenn du plötzlich meinen
Hut im Wasser treiben siehst.

Frage nicht, warum ich heute
Etwa etwas seltsam bin.
Grüße bitte meine Leute. –
Schau das Laub! – Es welkt dahin.

Bleibe glücklich und genieße
Du das Leben im Erblühn.
Wenn du Zeit hast, so begieße
Manchmal dieses Immergrün.

Was für Absichten ich hege?
Frage nicht. – Nimm diesen Kuss,
Und dann geh ich jene Wege,
Die ich einmal gehen muss.

Noch ein Küsschen auf das kleine
Näschen. Noch eins auf den Mund.
Ach was hast du süße Beine. –
Zeig mal! – Und wie bist du rund!

Ach, mir darfst du das schon zeigen,
Denn du bist doch schon so gut
Wie erwachsen und kannst schweigen,
Wenn dein Onkel etwas tut!?!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der traurige Onkel von Joachim Ringelnatz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der traurige Onkel“ von Joachim Ringelnatz entwickelt eine zunächst melancholische, dann zunehmend verstörende Szene zwischen einem erwachsenen Mann und einem Kind. Zu Beginn wird der Leser in eine Stimmung eingeführt, in der der Onkel seinen Kummer nicht mehr verbergen kann und Abschiedsgedanken äußert – Anspielungen auf Suizid werden klar durch den Hinweis auf Revolver und Gift.

Die ersten Strophen zeichnen ein Bild tiefer Resignation und Einsamkeit. Der Onkel bittet das Kind eindringlich, seine Pläne geheim zu halten und nicht zu weinen. Dabei wird die Vergänglichkeit des Lebens durch das Bild des welken Laubs symbolisiert, das ebenso wie der Onkel selbst seinem Ende entgegengeht. Der Ton wirkt traurig und erschütternd, zugleich wird dem Kind ein möglichst leichter Abschied vermittelt.

Doch die Stimmung kippt in den letzten beiden Strophen merklich. Der Onkel äußert körperliche Bewunderung für das Kind und überschreitet durch seine Aufforderungen eine eindeutige Grenze. Die Intimität, die zunächst wie eine rührende Abschiedsgeste wirkte, bekommt einen beunruhigenden, übergriffigen Charakter. Die Art, wie der Onkel körperliche Nähe einfordert, offenbart eine unangemessene Verschiebung der Beziehungsebene.

Ringelnatz zeigt hier in einer verstörenden Verdichtung die Abgründe eines Menschen, der in seiner Verzweiflung nicht nur sich selbst, sondern auch ein Kind in seine innere Zerrissenheit hineinzieht. Das Gedicht ist bewusst irritierend: Es konfrontiert den Leser mit Themen wie Depression, Todessehnsucht und Missbrauch, wobei die anfängliche Melancholie in ein unangenehmes Gefühl des Entsetzens umschlägt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.