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Arm Kräutchen

Von

Ein Sauerampfer auf dem Damm
stand zwischen Bahngeleisen,
machte vor jedem D-Zug stramm,
sah viele Menschen reisen.

Und stand verstaubt und schluckte Qualm,
schwindsüchtig und verloren,
ein armes Kraut, ein schwacher Halm,
mit Augen, Herz und Ohren.

Sah Züge schwinden, Züge nahen.
Der arme Sauerampfer
sah Eisenbahn um Eisenbahn,
sah niemals einen Dampfer.

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Gedicht: Arm Kräutchen von Joachim Ringelnatz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Arm Kräutchen“ von Joachim Ringelnatz schildert in einer zugleich humorvollen wie melancholischen Weise das Schicksal eines unscheinbaren Sauerampfers, der einsam zwischen Bahngeleisen steht. Der Sauerampfer wird dabei vermenschlicht: Er macht „stramm“ Haltung vor den durchfahrenden Zügen und beobachtet aufmerksam das Kommen und Gehen der Reisenden, bleibt jedoch selbst immer am gleichen Ort zurück.

Die Personifikation des Krauts – ausgestattet mit „Augen, Herz und Ohren“ – verdeutlicht dessen Empfindungsfähigkeit und macht sein tragisches Dasein umso greifbarer. Trotz der Lebendigkeit, die ihm zugeschrieben wird, ist das Kräutchen dem Staub und Qualm schutzlos ausgeliefert, ein Bild für Vergänglichkeit, Krankheit („schwindsüchtig“) und Einsamkeit.

Die ständige Bewegung der Züge im Gegensatz zur unbeweglichen Existenz des Krauts erzeugt ein starkes Gefühl von Stillstand und Verlorenheit. Es sehnt sich nach Veränderung oder Teilhabe, doch bleibt in seiner Ohnmacht gefangen. Die Züge, die es passieren sieht, symbolisieren eine Welt der Möglichkeiten und Abenteuer, die für das kleine, verwurzelte Wesen unerreichbar bleibt.

Der Schlussvers setzt eine humorvolle Pointe: Während der Sauerampfer all die Eisenbahnen sieht, träumt er insgeheim von einem „Dampfer“, also einem Schiff – ein Wunsch, der in seiner Absurdität und Unerfüllbarkeit eine tiefe Traurigkeit offenbart. So gelingt es Ringelnatz, mit einfacher Sprache eine feinsinnige Reflexion über Sehnsucht, Begrenztheit und das stille Leid der Unbeachteten zu schaffen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.