Die Courtisane
Venedigs Sonne wird in meinem Haar
ein Gold bereiten: aller Alchemie
erlauchten Ausgang. Meine Brauen, die
den Brücken gleichen, siehst du sie
hinführen ob der lautlosen Gefahr
der Augen, die ein heimlicher Verkehr
an die Kanäle schließt, so dass das Meer
in ihnen steigt und fällt und wechselt. Wer
mich einmal sah, beneidet meinen Hund,
weil sich auf ihm oft in zerstreuter Pause
die Hand, die nie an keiner Glut verkohlt,
die unverwundbare, geschmückt, erholt -.
Und Knaben, Hoffnungen aus altem Hause,
gehn wie an Gift an meinem Mund zugrund.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Courtisane“ von Rainer Maria Rilke zeichnet das Bild einer Frau, die in einer Welt der Sinnlichkeit und Gefahr lebt, in der Schönheit und Verführung mit einer tiefen Tragik verbunden sind. Zu Beginn beschreibt die Sprecherin, wie „Venedigs Sonne“ ihr Haar in „Gold“ verwandelt, was eine fast alchemistische Verwandlung anzeigt. Diese goldene Umhüllung steht für eine überirdische Schönheit, die mit einer geheimen, fast magischen Kraft ausgestattet ist. Ihre „Brauen, die den Brücken gleichen“, sind eine Metapher für die Verbindung und Übergänge zwischen Welten, in diesem Fall zwischen der sichtbaren und der verborgenen, verführerischen Welt der Frau.
Die „lautlose Gefahr“ der Augen und der „heimliche Verkehr“ an den Kanälen, der das Meer in den Augen der Frau „steigen und fallen“ lässt, verweist auf die verführerische und zugleich gefährliche Macht ihrer Anziehung. Die Augen der Frau sind Fenster zu einer Welt voller unerforschter Tiefe, in der der Blick des Anderen – in diesem Fall der männliche Blick – unbewusst in die Strömungen von Liebe, Begierde und letztlich auch Zerstörung eintaucht. Die Frau, die diese Macht besitzt, wird selbst von der Dualität ihrer eigenen Existenz erfasst: einerseits die verlockende, strahlende Erscheinung, andererseits die tief verborgene, wehmütige Gefahr, die ihre Schönheit birgt.
In der dritten Strophe wird die Sprecherin mit einer distanzierten Haltung betrachtet. Es wird beschrieben, wie „die Hand, die nie an keiner Glut verkohlt“, auf dem Hund ruht – eine Geste der Fürsorglichkeit, die jedoch von der kalten, unverwundbaren Natur der Frau begleitet wird. Sie ist „geschmückt“ und „erholt“, was auf eine gewisse Unnahbarkeit hinweist. Ihre äußere Schönheit ist makellos und unberührt, während ihre innere Welt von tieferer Einsamkeit und unerreichbarer Ferne geprägt ist. Der Hund wird als das einzige Wesen beschrieben, das in einer ruhigen, scheinbar unberührten Nähe zu ihr existieren kann.
Die abschließende Zeile des Gedichts beschreibt, wie „Knaben, Hoffnungen aus altem Hause“ an „ihrem Mund zugrund gehen“. Diese Zeilen verdeutlichen den tragischen Aspekt der Figur der Courtisane: ihre Fähigkeit, die jungen Männer zu verzehren, ohne sich selbst zu verändern oder zu erweichen. Ihre verführerische Macht führt zu einer Art Zerstörung, die jedoch keine direkte Auswirkungen auf sie selbst hat. Sie bleibt unberührt, während ihre Opfer in ihrer Nähe zugrunde gehen, was die tragische Einsamkeit und die kalte Unnahbarkeit der Frau widerspiegelt.
Rilkes Gedicht ist eine kraftvolle und vielschichtige Darstellung von Schönheit, Verführung und der Unvermeidlichkeit der Zerstörung, die mit der Anziehungskraft der Courtisane verbunden ist. Die Frauenfigur in diesem Gedicht lebt in einem Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen ihrer Schönheit und Macht, was ihr gleichzeitig eine faszinierende und tragische Aura verleiht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.