Mädchen-Lied
Gestern, Mädchen, ward ich weise,
gestern ward ich siebzehn Jahr:-
und dem gräulichsten der Greise
gleich‘ ich nun – doch nicht auf’s Haar!
Gestern kam mir ein Gedanke,
– ein Gedanke? Spott und Hohn!
Kam euch jemals ein Gedanke?
Ein Gefühlchen eher schon!
Selten, dass ein Weib zu denken wagt,
denn alte Weisheit spricht:
„Folgen soll das Weib, nicht lenken;
denkt sie, nun, dann folgt sie nicht.“
Was sie noch sagt, glaubt‘ ich nimmer;
wie ein Floh, so springt’s, so sticht’s!
„Selten denkt das Frauenzimmer,
denkt es aber, taugt es nichts!“
Alter hergebrachter Weisheit
meine schönste Reverenz!
Hört jetzt meiner neuen Weisheit
allerneuste Quintessenz!
Gestern sprach’s in mir, wie’s immer
in mir sprach – nun hört mich an:
„Schöner ist das Frauenzimmer,
interessanter ist – der Mann!“
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Mädchen-Lied“ von Friedrich Nietzsche setzt sich auf humorvolle und gleichzeitig kritische Weise mit den traditionellen Vorstellungen von Frauen und deren Rolle in der Gesellschaft auseinander. Zu Beginn stellt der Sprecher fest, dass er gestern „weise“ wurde, indem er das Alter von siebzehn Jahren erreichte, und sich plötzlich mit der Weisheit eines Greises vergleicht. Diese ironische Wendung zeigt, dass der Sprecher eine neue Erkenntnis erlangt hat, die ihn in seiner Sichtweise auf das Leben verändert hat. Der Gedanke, der ihm kam, wird als Spott und Hohn abgetan, was die kritische Haltung gegenüber konventionellen Denkweisen verdeutlicht.
In der zweiten Strophe wird ein weiteres wichtiges Thema angesprochen: die Weisheiten, die über Frauen verbreitet werden. Der Sprecher zitiert die alte Weisheit, dass Frauen folgen und nicht lenken sollen, was die jahrhundertealte Vorstellung widerspiegelt, dass Frauen nicht über ihre eigenen Gedanken und Entscheidungen verfügen, sondern eher passiv sein sollten. Nietzsche spielt hier auf die gesellschaftlichen Normen an, die Frauen intellektuell und kreativ unterdrücken, und stellt diese Konventionen infrage, indem er die Weisheit als veraltet und ungültig darstellt.
Der Sprecher fährt fort, die alte Weisheit zu verhöhnen, indem er sie mit einem „Floh“ vergleicht, der „springt und sticht“, was auf die Unbeständigkeit und Unvernunft der traditionellen Auffassungen hinweist. Er suggeriert, dass diese Weisheiten wenig Wert haben und die Frauen von den eigentlichen Möglichkeiten des Denkens und Handelns abhalten.
Am Ende des Gedichts präsentiert der Sprecher seine „neue Weisheit“, die eine Wende in der Wahrnehmung von Frauen und Männern darstellt. Er erklärt, dass „das Frauenzimmer“ schöner und der „Mann“ interessanter ist – eine provokante Aussage, die die Tradition von weiblicher Schönheit und männlicher Intellektualität hinterfragt. Nietzsche fordert auf diese Weise eine Neubewertung der Geschlechterrollen und setzt sich für eine freie Entfaltung des Individuums ohne gesellschaftliche Zwänge ein. Das Gedicht ist eine ironische Auseinandersetzung mit den Gendernormen und fordert dazu auf, den traditionellen Wahrscheinlichkeiten zu widersprechen und neue Perspektiven zu eröffnen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.