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Die kleine Hexe

Von

So lang noch hübsch mein Leibchen,
Lohnt sich’s schon, fromm zu sein.
Man weiß, Gott liebt die Weibchen,
Die hübschen obendrein.
Er wird’s dem art’gen Mönchlein
Gewisslich gern verzeihn,
Dass er, gleich manchem Mönchlein,
So gern will bei mir sein.

Kein grauer Kirchenvater!
Nein, jung noch und oft roth,
Oft gleich dem grausten Kater
Voll Eifersucht und Noth!
Ich liebe nicht die Greise,
Er liebt die Alten nicht:
Wie wunderlich und weise
Hat Gott dies eingericht!

Die Kirche weiß zu leben,
Sie prüft Herz und Gesicht.
Stets will sie mir vergeben: –
Ja wer vergiebt mir nicht!
Man lispelt mit dem Mündchen,
Man knixt und geht hinaus
Und mit dem neuen Sündchen
Löscht man das alte aus.

Gelobt sei Gott auf Erden,
Der hübsche Mädchen liebt
Und derlei Herzbeschwerden
Sich selber gern vergiebt!
So lang noch hübsch mein Leibchen,
Lohnt sich’s schon, fromm zu sein:
Als altes Wackelweibchen
Mag mich der Teufel frein!

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Gedicht: Die kleine Hexe von Friedrich Nietzsche

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die kleine Hexe“ von Friedrich Nietzsche stellt eine satirische und ironische Auseinandersetzung mit religiösen und gesellschaftlichen Normen dar. Zu Beginn wird die Sprecherin als junge Frau beschrieben, die sich ihrer Schönheit bewusst ist und die fromme Haltung als eine Art Vorteil in der Gesellschaft nutzt. Sie stellt fest, dass Gott vor allem die hübschen Frauen liebt und den „art’gen Mönchlein“ ihre Sünden verzeiht – was eine kritische Anspielung auf die moralische Doppelmoral innerhalb der religiösen Institutionen darstellt.

In der zweiten Strophe wird das Bild des „grauen Kirchenvaters“ gezeichnet, der im Gegensatz zur jungen Frau von Eifersucht und Not geplagt ist. Nietzsche kritisiert hier die unnatürliche Lebensweise der Alten und die Ablehnung der Jugend und Lebensfreude durch die Kirche. Es wird die Ironie der göttlichen Ordnung hervorgehoben, dass Gott auf der einen Seite die alten Menschen und auf der anderen Seite die jungen und schönen Frauen bevorzugt – was Nietzsche als „wunderlich und weise“ bezeichnet.

Die dritte Strophe nimmt die katholische Kirche ins Visier, die angeblich mit einem „lispelnden Mündchen“ und einem scheinbar leichten Umgang mit Sünden und Vergebung dazu beiträgt, dass das schlechte Gewissen der Gläubigen ständig gelöscht wird. Nietzsche kritisiert die Heuchelei der Kirche, die Vergebung und Buße zu einem bloßen Ritual macht, das die wahren moralischen Konflikte der Menschen übersieht.

Abschließend spiegelt sich in der letzten Strophe eine sarkastische Haltung zur Religion wider. Die Sprecherin sieht ihre Schönheit als Schlüssel, um in der Welt der Religion erfolgreich zu sein, solange sie jung und attraktiv bleibt. Die „alte Wackelweibchen“-Metapher deutet darauf hin, dass sie sich in einem späteren Leben als weniger wertvoll ansehen würde, was einen tiefen Pessimismus und eine Kritik an der Vergänglichkeit der äußeren Schönheit und der veränderten Wahrnehmung von Frauen in der Gesellschaft anzeigt. Nietzsche verbindet in diesem Gedicht seine Philosophie der Selbstermächtigung mit einer scharfsinnigen Gesellschaftskritik.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.