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Lumpenlied

Von

Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack.
Wir sind ein schäbiges Lumpenpack,
auf das der Bürger speit.
Der Bürger blank von Stiebellack,
mit Ordenszacken auf dem Frack,
der Bürger mit dem Chapeau claque,
fromm und voll Redlichkeit.

Der Bürger speit und hat auch recht.
Er hat Geschmeide gold und echt. –
Wir haben Schnaps im Bauch.
Wer Schnaps im Bauch hat, ist bezecht,
und wer bezecht ist, der erfrecht
zu Dingen sich, die jener schlecht
und niedrig findet auch.

Der Bürger kann gesittet sein,
er lernte Bibel und Latein. –
Wir lernen nur den Neid.
Wer Porter trinkt und Schampus-Wein,
lustwandelt fein im Sonnenschein,
der bürstet sich, wenn unserein
ihn anrührt mit dem Kleid.

Wo hat der Bürger alles her:
den Geldsack und das Schießgewehr?
Er stiehlt es grad wie wir.
Bloß macht man uns das Stehlen schwer.
Doch er kriegt mehr als sein Begehr.
Er schröpft dazu die Taschen leer
von allem Arbeitstier.

Oh, wär ich doch ein reicher Mann,
der ohne Mühe stehlen kann,
gepriesen und geehrt.
Träf ich euch auf der Straße dann,
ihr Strohkumpane, Fritz, Johann,
ihr Lumpenvolk, ich spie euch an. –
Das seid ihr Hunde wert!

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Gedicht: Lumpenlied von Erich Mühsam

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Lumpenlied“ von Erich Mühsam ist eine bissige, satirisch übersteigerte Anklage gegen bürgerliche Doppelmoral und soziale Ungleichheit. In volksliedhafter Form und mit bitterem Humor stellt Mühsam die Perspektive der gesellschaftlich Ausgestoßenen dar – des „Lumpenpacks“ –, das vom wohlhabenden Bürgertum verachtet wird, obwohl sich dieses seinerseits keineswegs moralisch überlegen verhält.

Das lyrische Ich bekennt sich offen zur Außenseiterrolle: kein Geld, kein Schlips, keine gesellschaftliche Anerkennung. Dem gegenüber steht das Bild des Bürgers, herausgeputzt, fromm und mit Orden behängt. Doch gerade in dieser scheinbaren Würde liegt der Kern der Anklage: Der Bürger lebt in Heuchelei, moralisiert über die Armen, während er selbst von einem System profitiert, das auf Ausbeutung basiert.

Mühsam entlarvt die bürgerliche Selbstgerechtigkeit als hohl. Die Lumpen trinken Schnaps, sind laut und „frech“ – doch sie leben ehrlich in ihrer Armut. Der Bürger hingegen „stiehlt“ mit System: durch wirtschaftliche Strukturen, durch Herrschaft über Besitz und Machtmittel. Besonders deutlich wird das in der vierten Strophe, wo die Herkunft von „Geldsack und Schießgewehr“ gleichermaßen in Frage gestellt wird – Reichtum und Gewalt sind zwei Seiten derselben Münze.

In der letzten Strophe kippt das Gedicht in eine bittere Parodie auf sozialen Aufstieg: Das lyrische Ich stellt sich vor, selbst reich zu sein – und macht klar, dass es dann die eigene Klasse ebenso verachten würde. Diese finale Wendung bringt eine düstere Einsicht zutage: Der Kreislauf von Armut, Neid und Verachtung reproduziert sich selbst, solange das System nicht grundlegend verändert wird.

„Lumpenlied“ ist damit mehr als nur Spott auf das Bürgertum – es ist eine sozialkritische Reflexion über Klassenzugehörigkeit, Macht und Selbsthass in der Klassengesellschaft. Mühsam verleiht jenen eine Stimme, die sonst nur Objekt der Verurteilung sind – und zeigt, wie tief der gesellschaftliche Graben verläuft, nicht nur in Geldfragen, sondern auch im Denken.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.