Zum Neujahr
Mit einem Taschenkalender
An tausend Wünsche, federleicht,
Wird sich kein Gott noch Engel kehren,
Ja, wenn es so viel Flüche wären,
Dem Teufel wären sie zu seicht.
Doch wenn ein Freund in Lieb und Treu
Dem andern den Kalender segnet,
So steht ein guter Geist dabei.
Du denkst an mich, was Liebes dir begegnet,
Ob dir’s auch ohne das beschieden sei.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Zum Neujahr“ von Eduard Mörike ist ein kurzer, pointierter Neujahrsgruß, der mit feinem Humor und leiser Tiefe über den Wert guter Wünsche und freundschaftlicher Verbundenheit reflektiert. Ausgehend von der beiläufigen Geste, einem Freund einen Taschenkalender zu schenken, entwickelt Mörike eine kleine Szene, die das Alltägliche ins Bedeutsame hebt.
In den ersten Versen relativiert der Sprecher die Wirksamkeit bloßer Wünsche: „An tausend Wünsche, federleicht, / Wird sich kein Gott noch Engel kehren“. Wünsche, so leicht und zahlreich sie auch sein mögen, bleiben ohne Bedeutung, wenn sie nicht von echter Anteilnahme getragen werden. Selbst Flüche – eigentlich kraftvolle Worte – wären in ihrer Masse belanglos: „Dem Teufel wären sie zu seicht.“ Damit übt Mörike auf subtile Weise Kritik an oberflächlichen Neujahrsgesten und hebt die Bedeutung der Absicht hinter den Worten hervor.
Erst in der zweiten Hälfte des Gedichts wendet sich der Ton ins Persönliche und Herzliche. Wenn jedoch ein Freund dem anderen aus Liebe und Treue den Kalender „segnet“, also ihn mit einem guten Wunsch versieht, dann wird diese Geste bedeutungsvoll. Mörike deutet an, dass in solchen Momenten ein „guter Geist“ anwesend ist – ein unsichtbarer Zeuge echter Freundschaft.
Der letzte Vers rundet das Gedicht auf zärtliche Weise ab: Der Beschenkte soll beim Erleben von Glücksmomenten an den Freund denken – auch wenn das Glück unabhängig vom Wunsch eintritt. Die eigentliche Wirkung liegt also nicht im herbeigewünschten Ereignis, sondern im Gedanken aneinander. In dieser stillen Erinnerung zeigt sich die wahre Tiefe zwischenmenschlicher Nähe.
„Zum Neujahr“ ist damit mehr als ein freundlicher Glückwunsch: Es ist eine kleine poetische Reflexion über den Unterschied zwischen leeren Floskeln und aufrichtiger Zuwendung – schlicht, feinfühlig und typisch für Mörikes leise Ironie gepaart mit echter Herzenswärme.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.