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Der junge Dichter

Von

Wenn der Schönheit sonst, der Anmut
Immer flüchtige Erscheinung,
Wie ein heller Glanz der Sonne,
Mir zu staunendem Entzücken
Wieder vor die Sinne trat;
Wenn Natur mir oft und alles
Erdenlebens liebe Fülle
Fast zu schwer am Busen wurde,
Daß nur kaum ein trunknes Jauchzen
Noch der Ausdruck lautern Dankes
Für solch süßes Dasein war:
O wie drang es da mich armen,
Mich unmündgen Sohn Apollens,
Dieses alles, schön gestaltet
Unter goldnen Leierklängen,
Fest, auf ewig festzuhalten!

Doch, wenn mir das tief Empfundne
Nicht alsbald so rein und völlig,
Wie es in der Seele lebte,
In des Dichters zweite Seele,
Den Gesang, hinüberspielte,
Wenn ich nur mit stumpfem Finger
Ungelenk die Saiten rührte –
Ach, wie oft wollt ich verzweifeln,
Daß ich stets ein Schüler bleibe!

Aber, Liebchen, sieh, bei dir
Bin ich plötzlich wie verwandelt:
Im erwärmten Winterstübchen,
Bei dem Schimmer dieser Lampe,
Wo ich deinen Worten lausche,
Hold bescheidnen Liebesworten!
Wie du dann geruhig deine
Braunen Lockenhaare schlichtest,
Also legt sich mir geglättet
All dies wirre Bilderwesen,
All des Herzens eitle Sorge,
Viel-zerteiltes Tun und Denken.
Froh begeistert, leicht gefiedert,
Flieg ich aus der Dichtung engen
Rosenbanden, daß ich nur
Noch in ihrem reinen Dufte,
Als im Elemente, lebe.

O du Liebliche, du lächelst,
Schüttelst, küssend mich, das Köpfchen,
Und begreifst nicht, was ich meine.
Möcht ich selber es nicht wissen,
Wissen nur, daß du mich liebest,
Daß ich in dem Flug der Zeit
Deine kleinen Hände halte!

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Gedicht: Der junge Dichter von Eduard Mörike

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der junge Dichter“ von Eduard Mörike thematisiert die Spannung zwischen dichterischer Sehnsucht und künstlerischer Unzulänglichkeit – und wie die Liebe schließlich zum Schlüssel der inneren Harmonie und kreativen Inspiration wird. Das lyrische Ich beschreibt zunächst die intensive, fast überfordernde Wahrnehmung von Schönheit, Natur und Lebensfülle. Diese Eindrücke rufen ein tiefes Bedürfnis hervor, sie im Gedicht festzuhalten – doch zugleich erlebt sich der Sprecher als „unmündger Sohn Apollens“, also als noch unreif und unfähig, das Empfundene angemessen in Kunst zu überführen.

In der zweiten Strophe wird der innere Konflikt deutlich: Zwischen dem Wunsch nach vollkommener dichterischer Gestaltung und dem tatsächlichen Ausdruck klafft eine Lücke. Der Versuch, die „zweite Seele des Dichters“, den Gesang, zu erreichen, scheitert oft an der eigenen Ungeschicklichkeit. Die Saiten der „goldnen Leier“ werden nur „mit stumpfem Finger“ berührt – ein Bild für das Gefühl, seiner Berufung nicht gerecht zu werden. Diese Frustration gipfelt in einem fast verzweifelten Eingeständnis des immerwährenden Schülerseins.

Doch dann vollzieht sich eine Wendung: Im einfachen, häuslichen Moment mit der Geliebten verwandelt sich alles. Die äußere Welt, die innere Unruhe und das kreative Chaos ordnen sich im liebevollen Beisammensein. Ihre ruhige Art, ihre Worte und Gesten, ja selbst das einfache Schlichten der Haare wirken beruhigend und klärend. In diesem Moment kann sich das lyrische Ich vom Druck der Form lösen und ganz im Duft der Dichtung aufgehen – als wäre Liebe selbst das Element, in dem Poesie erst natürlich entstehen kann.

Die letzte Strophe bringt die zärtliche Ironie des Gedichts zum Ausdruck: Die Geliebte versteht nicht, was der Sprecher meint – und doch ist genau das ihr Zauber. Die Liebe braucht keine Theorie, keine poetische Reflexion. Der Wunsch, nichts wissen zu müssen außer ihrer Zuneigung, wird zum poetischen Höhepunkt. Damit bringt Mörike ein romantisches Ideal zum Ausdruck: wahre Inspiration entspringt nicht dem Streben nach Größe, sondern der stillen, menschlichen Nähe. Die Liebe wird zur Quelle der Dichtung, die den jungen Dichter in seiner Unsicherheit über sich selbst erhebt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.