Begegnung
Was doch heut nacht ein Sturm gewesen,
Bis erst der Morgen sich geregt!
Wie hat der ungebetne Besen
Kamin und Gassen ausgefegt!
Da kommt ein Mädchen schon die Straßen,
Das halb verschüchtert um sich sieht;
Wie Rosen, die der Wind zerblasen,
So unstet ihr Gesichtchen glüht.
Ein schöner Bursch tritt ihr entgegen,
Er will ihr voll Entzücken nahn:
Wie sehn sich freudig und verlegen
Die ungewohnten Schelme an!
Er scheint zu fragen, ob das Liebchen
Die Zöpfe schon zurechtgemacht,
Die heute nacht im offnen Stübchen
Ein Sturm in Unordnung gebracht.
Der Bursche träumt noch von den Küssen,
Die ihm das süße Kind getauscht,
Er steht, von Anmut hingerissen,
Derweil sie um die Ecke rauscht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Begegnung“ von Eduard Mörike beschreibt in einer heiteren, fast verspielten Weise eine zufällige Begegnung zwischen einem jungen Mädchen und einem Burschen, die nach einem stürmischen Abend aufeinandertreffen. Die erste Strophe stellt die stürmische Nacht dar, in der der „ungebetene Besen“ durch Wind und Sturm „Kamin und Gassen ausgefegt“ hat. Dieser Sturm symbolisiert nicht nur das Unwetter der Nacht, sondern auch die Unordnung und die Unvorhersehbarkeit von Gefühlen und Ereignissen. Die Entschlossenheit des Sturms, alles „auszufegen“, deutet auf eine Reinigung oder einen Wendepunkt hin.
In der zweiten Strophe tritt das Mädchen auf die Bühne, das „halb verschüchtert um sich sieht“, was eine Mischung aus Unsicherheit und einer gewissen Verletzlichkeit widerspiegelt. Ihr Gesicht wird mit den „Rosen, die der Wind zerblasen“, verglichen, was sowohl ihre Unbeständigkeit als auch ihre Anmut betont. Diese Beschreibung zeigt sie als eine Person, die durch die stürmische Nacht beeinflusst wurde und in ihrem Verhalten und Aussehen den Wind und das Durcheinander widerspiegelt, das zuvor in der Umgebung herrschte.
Die Begegnung mit dem „schönen Burschen“ bringt einen romantischen Moment, in dem sich beide, „freudig und verlegen“, nach einem kurzen Augenblick der Unsicherheit näherkommen. Die „ungewohnten Schelme“ verweist auf die jugendliche Unbeholfenheit und die anfängliche Verlegenheit, die beim ersten Kennenlernen entstehen. Der Bursche, der das Mädchen fragt, ob „die Zöpfe schon zurechtgemacht“ seien, spielt auf eine intime, persönliche Frage an, die nach der stürmischen Nacht von Bedeutung ist – sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinn. Diese Frage lässt Raum für eine romantische Vorstellung von Zuneigung und Nähe.
Die letzte Strophe beschreibt die Traumwelt des Burschen, der noch von den Küssen des Mädchens „träumt“. Die Wirkung des Mädchens auf ihn ist so stark, dass er von „Anmut“ hingerissen steht, während das Mädchen sich von ihm entfernt. Ihre flüchtige Präsenz und die Andeutung eines ersten zarten Flirts bilden die Grundlage für die ganze Szene, die durch die plötzliche, aber bedeutungsvolle Begegnung verstärkt wird. Mörike fängt in diesem Gedicht die Leichtigkeit und die Unbeschwertheit einer ersten Begegnung ein, die sowohl von einer tiefen Anziehungskraft als auch von der Schüchternheit und Unsicherheit des Anfangs geprägt ist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.