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Auf einer Wanderung

Von

In ein freundliches Städtchen tret ich ein,
In den Straßen liegt roter Abendschein.
Aus einem offenen Fenster eben,
über den reichsten Blumenflor
Hinweg, hört man Goldglockentöne schweben,
Und eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor,
Dass die Blüten beben,
Dass die Lüfte leben,
Dass in höherem Rot die Rosen leuchten vor.

Lang hielt ich staunend, lustbeklommen.
Wie ich hinaus vors Tor gekommen,
Ich weiß es wahrlich selber nicht.
Ach hier, wie liegt die Welt so licht!
Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle,
Rückwärts die Stadt in goldenem Rauch;
Wie rauscht der Erlenbach, wie rauscht im Grund die Mühle!
Ich bin trunken, irrgeführt –
O Muse, du hast mein Herz berührt
Mit einem Liebeshauch!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Auf einer Wanderung von Eduard Mörike

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Auf einer Wanderung“ von Eduard Mörike beschreibt ein eindrucksvolles sinnliches Erlebnis während eines Spaziergangs durch eine Stadt in der Abenddämmerung. Der Sprecher tritt in ein „freundliches Städtchen“ ein und wird unmittelbar überwältigt von der Schönheit der Szenerie: Roter Abendschein, üppiger Blumenschmuck und Musik aus einem offenen Fenster erzeugen eine beinahe verzauberte Atmosphäre. Die Verbindung von Natur, Architektur und Klang lässt die Welt in einem Moment vollkommener Harmonie erscheinen.

Die Bildsprache des Gedichts ist stark synästhetisch: Klänge werden sichtbar gemacht („Goldglockentöne“, „eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor“), Blumen beginnen unter dem Eindruck der Musik zu „beben“, die „Rosen leuchten“ intensiver. Diese Verschmelzung der Sinneseindrücke steigert sich zu einem fast mystischen Erleben, in dem die äußere Schönheit unmittelbar in das Innere des lyrischen Ichs übergeht. Der Moment ist so überwältigend, dass der Sprecher nicht einmal merkt, wie er wieder aus der Stadt hinaus vor das Tor gelangt – ein Hinweis darauf, wie sehr er in diesem Augenblick aufgehoben war.

Im zweiten Teil des Gedichts wandelt sich der Ton ins Staunende, beinahe Trunkene. Der Himmel wird als „purpurnes Gewühle“ geschildert, die Stadt erscheint in „goldenem Rauch“ – der Eindruck eines Rausches durchzieht die Verse. Alles wirkt verklärt, von tiefer innerer Bewegung getragen. Der Bach und die Mühle rauschen, als würden auch sie Teil dieses poetischen Überschwangs. Diese Bewegung mündet in eine Offenbarung: Die Muse, Sinnbild für Inspiration und dichterisches Schaffen, hat das Herz des Sprechers „mit einem Liebeshauch“ berührt.

Mörike verbindet hier Naturerlebnis mit künstlerischer Inspiration. Die Wanderung wird zum Weg in einen Zustand erhöhter Wahrnehmung, in dem äußere Eindrücke das Innere aufwühlen und verwandeln. Das Gedicht ist somit nicht nur eine lyrische Momentaufnahme, sondern auch eine poetologische Reflexion: Schönheit in der Welt wird zur Quelle der Dichtung, zum Impuls des künstlerischen Ausdrucks. Es ist eine Feier des Staunens und der sinnlichen Offenheit gegenüber der Welt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.