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An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang

Von

O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe!
Welch neue Welt bewegest du in mir?
Was ist’s, daß ich auf einmal nun in dir
Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?

Einem Kristall gleicht meine Seele nun,
Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen;
Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn,
Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen,
Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft
Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft.

Bei hellen Augen glaub ich doch zu schwanken;
Ich schließe sie, daß nicht der Traum entweiche.
Seh ich hinab in lichte Feenreiche?
Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken
Zur Pforte meines Herzens hergeladen,
Die glänzend sich in diesem Busen baden,
Goldfarbgen Fischlein gleich im Gartenteiche?

Ich höre bald der Hirtenflöten Klänge,
Wie um die Krippe jener Wundernacht,
Bald weinbekränzter Jugend Lustgesänge;
Wer hat das friedenselige Gedränge
In meine traurigen Wände hergebracht?

Und welch Gefühl entzückter Stärke,
Indem mein Sinn sich frisch zur Ferne lenkt!
Vom ersten Mark des heutgen Tags getränkt,
Fühl ich mir Mut zu jedem frommen Werke.
Die Seele fliegt, so weit der Himmel reicht,
Der Genius jauchzt in mir! Doch sage,
Warum wird jetzt der Blick von Wehmut feucht?
Ist’s ein verloren Glück, was mich erweicht?
Ist es ein werdendes, was ich im Herzen trage?

– Hinweg, mein Geist! hier gilt kein Stillestehn:
Es ist ein Augenblick, und alles wird verwehn!

Dort, sieh, am Horizont lüpft sich der Vorhang schon!
Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn;
Die Purpurlippe, die geschlossen lag,
Haucht, halbgeöffnet, süße Atemzüge:
Auf einmal blitzt das Aug, und, wie ein Gott, der Tag
Beginnt im Sprung die königlichen Flüge!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang von Eduard Mörike

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang“ von Eduard Mörike ist ein hymnischer Lobgesang auf die stille, beinahe magische Zeit vor dem Tagesanbruch. Es beschreibt in eindrucksvollen Bildern den Moment innerer Erleuchtung, den Übergang vom Traumhaften zum Wachen, vom Dunkel zum Licht. Mörike nutzt dabei den stillen Wintermorgen als Kulisse für eine tiefgehende seelische Erfahrung – eine Mischung aus Naturwahrnehmung, Vision, Erinnerung und spiritueller Erhebung.

Bereits in den ersten Versen wird die „flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe“ als etwas Kostbares beschrieben – eine Zeit, in der die Welt noch still und unberührt scheint. Das lyrische Ich gerät in einen Zustand der inneren Glut, der an eine mystische Ekstase erinnert. Die Seele wird mit einem Kristall verglichen, rein und offen für die Eindrücke der nahenden Welt. Es ist ein Moment reiner Potenzialität, ein Zwischenzustand, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie aufgehoben erscheinen.

Die Bilder, die Mörike darauf entfaltet, sind traumhaft und poetisch: Gedanken und Empfindungen strömen in das Herz des Sprechers wie „goldfarbne Fischlein“ in einem Teich. Klänge von Hirtenflöten und Jugendgesänge erzeugen Assoziationen an Weihnachten und Lebensfreude, an das Wunderbare, das Friedliche, das Unschuldige. Dieser Zauber scheint einen Kontrast zur „traurigen Wand“ des Alltags zu bilden – und doch wird dieser durchbrochen, das Alltägliche verwandelt sich durch die Offenheit des Morgens.

In der Mitte des Gedichts tritt ein Gefühl von Tatkraft hinzu: Der Morgen schenkt nicht nur Schönheit, sondern auch Mut, Stärke, Entschlossenheit. Das lyrische Ich ist bereit, sich dem Leben zu stellen – inspiriert von einer übernatürlichen Kraft, dem „Genius“. Doch plötzlich mischt sich Wehmut in dieses Hochgefühl: Der Blick wird feucht, das Herz empfindet eine unbestimmte Traurigkeit. Es bleibt offen, ob es sich um den Verlust eines vergangenen Glücks oder um die Ahnung eines künftigen handelt. Diese emotionale Tiefe verleiht dem Gedicht eine melancholische Nuance, die typisch für Mörikes Lyrik ist.

Im letzten Teil wird der Moment als flüchtig erkannt – ein „Augenblick“, der vorübergeht. Doch in diesem Moment kündigt sich der neue Tag an: Wie ein Gott erhebt er sich am Horizont, majestätisch, kraftvoll. Die Metaphorik des Lichts als göttlicher Offenbarung rundet das Gedicht ab und verwandelt den stillen Wintermorgen in eine epische Szene der Welterneuerung. So verbindet Mörike in diesem Werk Naturempfinden, inneres Erleben und geistige Vision zu einer poetischen Morgenandacht von hoher Schönheit und Tiefe.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.