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Abreise

Von

Fertig schon zur Abfahrt steht der Wagen,
Und das Posthorn bläst zum letzten Male.
Sagt, wo bleibt der vierte Mann so lange?
Ruft ihn, soll er nicht dahinten bleiben!
– Indes fällt ein rascher Sommerregen;
Eh man hundert zählt, ist er vorüber;
Fast zu kurz, den heißen Staub zu löschen;
Doch auch diese Letzung ist willkommen.
Kühlung füllt und Wohlgeruch den weiten
Platz und an den Häusern ringsum öffnet
Sich ein Blumenfenster um das andre.
Endlich kommt der junge Mann. Geschwinde!
Eingestiegen! – Und fort rollt der Wagen.
Aber sehet, auf dem nassen Pflaster
Vor dem Posthaus, wo er stillgehalten,
Lässt er einen trocknen Fleck zurücke,
Lang und breit, sogar die Räder sieht man
Angezeigt und wo die Pferde standen.
Aber dort in jenem hübschen Hause,
Drin der Jüngling sich so lang verweilte,
Steht ein Mädchen hinterm Fensterladen,
Blicket auf die weiß gelassne Stelle,
Hält ihr Tüchlein vors Gesicht und weinet.
Mag es ihr so ernst sein? Ohne Zweifel;
Doch der Jammer wird nicht lange währen:
Mädchenaugen, wisst ihr, trocknen hurtig,
Und eh auf dem Markt die Steine wieder
Alle hell geworden von der Sonne,
Könnet ihr den Wildfang lachen hören.

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Gedicht: Abreise von Eduard Mörike

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Abreise“ von Eduard Mörike beschreibt auf einfühlsame Weise den Moment einer Abreise und die begleitenden Emotionen, die sowohl bei den Reisenden als auch bei den Zurückgebliebenen entstehen. Zu Beginn wird die Szene eines Wagens dargestellt, der „fertig schon zur Abfahrt“ steht, und das Posthorn bläst „zum letzten Male“, was den bevorstehenden Abschied markiert. Der Ruf nach dem „vierten Mann“ deutet auf eine kleine Verzögerung hin, was die Unruhe und die Dringlichkeit des Abschieds unterstreicht. Der rasche „Sommerregen“, der bald darauf einsetzt, wird als eine willkommene Erleichterung empfunden, da er den heißen Staub der Straße „löscht“, was sowohl die körperliche als auch die emotionale „Kühlung“ symbolisiert, die der Regen bringt.

Der Regen, der „fast zu kurz“ ist, um wirklich eine nachhaltige Erfrischung zu bringen, wird dennoch als willkommen wahrgenommen. Er schafft eine Veränderung in der Atmosphäre: „Kühlung füllt und Wohlgeruch“ breitet sich aus, und „an den Häusern ringsum öffnet sich ein Blumenfenster um das andre“. Diese Bilder der Frische und des Wachstums kontrastieren die vorherige Hitze und Trockenheit und vermitteln eine Stimmung der Erneuerung und des Neuanfangs. Der Regen kann auch als Symbol für den Moment der Trennung und die damit verbundenen Gefühle von Verlust und Vergänglichkeit gesehen werden, die jedoch schnell wieder von der frischen, belebenden Wirkung des Lebens überschattet werden.

Als der junge Mann endlich eintrifft und in den Wagen steigt, „rollt der Wagen“ fort, was den endgültigen Moment der Abreise markiert. Doch der Regen hinterlässt einen „trocknen Fleck“ auf dem Pflaster, den die Räder und Pferdeabdrücke hinterlassen. Dieser Fleck kann als Symbol für die Spuren des Abschieds interpretiert werden, die sowohl in der physischen Welt als auch im Herzen der Zurückgebliebenen bleiben. Im „hübschen Hause“, wo der junge Mann verweilte, „blicket ein Mädchen“ auf die „weiß gelassne Stelle“ und weint, was den Schmerz und die Trauer über die Trennung zeigt. Doch Mörike lässt uns wissen, dass dieser Schmerz nicht von Dauer sein wird: „Mädchenaugen, wisst ihr, trocknen hurtig“, was eine Erinnerung daran ist, dass der Schmerz des Abschieds oft nur vorübergehend ist und das Leben weitergeht.

Am Ende des Gedichts wird die Hoffnung auf Erneuerung und das Vergessen des Schmerzes deutlich: „Und eh auf dem Markt die Steine wieder / Alle hell geworden von der Sonne“, wird das „Mädchen“ wieder lachen. Diese Zeilen betonen die Vergänglichkeit von Trauer und die Fähigkeit des Menschen, nach einer emotionalen Krise wieder Freude zu finden. Mörike zeigt hier die Balance zwischen der Vergänglichkeit des Schmerzes und der Erneuerung durch die Zeit, indem er den Verlauf eines „Wildfangs“ als eine Metapher für die Lebensfreude und das Weitergehen im Leben nutzt. Das Gedicht vermittelt eine sanfte, aber tiefgründige Betrachtung über Abschiede, Trauer und die Hoffnung auf Heilung und Erneuerung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.