Abschied, Emotionen & Gefühle, Fortschritt, Gemeinfrei, Götter, Heimat & Identität, Länder, London, Natur, Sommer, Zuhause, Zusammenhalt
Mit zwei Worten
Am Gestade Palästinas, auf und nieder, Tag um Tag,
„London?“ frug die Sarazenin, wo ein Schiff vor Anker lag.
„London!“ bat sie lang vergebens, nimmer müde, nimmer zag,
Bis zuletzt an Bord sie brachte eines Bootes Ruderschlag.
Sie betrat das Deck des Seglers und ihr wurde nicht gewehrt.
Meer und Himmel. „London?“ frug sie, von der Heimat abgekehrt,
Suchte, blickte, durch des Schiffers ausgestreckte Hand belehrt,
Nach den Küsten, wo die Sonne sich in Abendglut verzehrt…
„Gilbert?“ fragt die Sarazenin im Gedräng der großen Stadt,
und die Menge lacht und spottet, bis sie dann Erbarmen hat.
„Tausend Gilbert gibt’s in London!“ Doch sie sucht und wird nicht matt
„Labe dich mit Trank und Speise!“ Doch sie wird von Tränen satt.
„Gilbert!“ „Nichts als Gilbert? Weißt du keine andern Worte? Nein?“
„Gilbert!“ … „Hört, das wird der weiland Pilger Gilbert Becket sein-
Den gebräunt in Sklavenketten glüher Wüste Sonnenschein –
Dem die Bande löste heimlich eines Emirs Töchterlein!“
„Pilgrim Gilbert Becket!“ dröhnt es, braust es längs der Themse Strand.
Sieh, da kommt er ihr entgegen, von des Volkes Mund genannt,
Über seine Schwelle führt er, die das Ziel der Reise fand.
Liebe wandert mit zwei Worten gläubig über Meer und Land.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Mit zwei Worten“ von Conrad Ferdinand Meyer erzählt eine ergreifende Geschichte über Liebe, Sehnsucht und die Suche nach einem verlorenen Menschen. Zu Beginn begegnen wir einer Sarazenin, die am Gestade Palästinas ein Schiff nach „London“ sucht. Sie fragt immer wieder nach der Stadt, doch ihre Bemühungen sind vergeblich. Ihre Ausdauer und ihre unermüdliche Suche nach „London“ spiegeln die tiefe Sehnsucht nach ihrer Heimat und einem geliebten Menschen wider. Als sie schließlich an Bord des Schiffes gelangt, ist ihre Reise noch nicht beendet, da ihre Suche nach „London“ auch auf dem Meer weitergeht, wo sie in der Ferne nach den „Küsten“ blickt und auf das Verschwinden der Sonne in der „Abendglut“ hofft. Diese Bildsprache vermittelt die Sehnsucht nach einem Ziel, das sich trotz aller Bemühungen nur schwer fassen lässt.
Der Höhepunkt der Geschichte entfaltet sich in London, wo die Sarazenin weiterhin nach „Gilbert“ sucht. Ihr Ruf nach „Gilbert“ wird von der Menge verspottet, was ihre Entfremdung und Isolation in einer fremden, chaotischen Stadt verdeutlicht. Doch trotz des Spottes und der Entmutigung lässt sie nicht nach. Der Name „Gilbert“ symbolisiert hier nicht nur eine Person, sondern auch die tiefe, unerschütterliche Liebe, die sie auf ihrer Reise begleitet. Ihre Suche wird in gewisser Weise zur Metapher für den menschlichen Drang, trotz aller Hindernisse nach etwas oder jemandem zu streben, das von großer Bedeutung ist. Die Antwort der Menschen, dass es „Tausend Gilbert“ in London gibt, verstärkt das Gefühl der Verlorenheit und die Schwierigkeit, im großen Strom der Welt das zu finden, was wirklich zählt.
Als die Sarazenin schließlich die Geschichte von „Gilbert Becket“ erfährt, wird ein weiteres Motiv des Gedichts eingeführt: das von Liebe und Opfer. Gilbert Becket, einst ein Pilger, der durch die „glühende Wüste“ der Sklaverei gegangen ist, wurde von der Tochter eines Emirs befreit – ein Symbol für den Erlösungsakt der Liebe und die Hingabe, die mit großen Opfern verbunden ist. Diese Geschichte fügt eine historische und symbolische Tiefe hinzu, die die Reise der Sarazenin nicht nur als eine physische Suche, sondern auch als eine spirituelle Reise darstellt. Der Moment, in dem sie „Pilgrim Gilbert Becket“ ruft, ist ein Höhepunkt der Erfüllung und der Erkenntnis, dass ihre Reise zu einem Ziel geführt hat, das nicht nur geografisch, sondern auch emotional und spirituell von Bedeutung ist.
Im abschließenden Vers des Gedichts wird die Macht der Liebe hervorgehoben, die über „Meer und Land“ wandert. Liebe wird als eine „Pilgerreise“ dargestellt, die keine Grenzen kennt und in der die „zwei Worte“ – in diesem Fall der Name „Gilbert“ – zum Schlüssel für das Finden von Erfüllung und Wahrheit werden. Die Sarazenin hat nicht nur ihren geliebten Gilbert gefunden, sondern auch die tiefere Bedeutung ihrer Reise erkannt: Liebe und Hingabe haben sie über alle Widrigkeiten hinweg getragen und schließlich das ersehnte Ziel erreicht. Meyers Gedicht zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass wahre Liebe und Hingabe keine Entfernungen oder Hindernisse kennen und immer wieder den Weg zu ihrem Ziel finden, sei es durch Worte, Taten oder Glauben.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.