Jetzt rede du!
Du warest mir ein täglich Wanderziel,
Viellieber Wald, in dumpfen Jugendtagen,
Ich hatte dir geträumten Glücks so viel
Anzuvertraun, so wahren Schmerz zu klagen.
Und wieder such ich dich, du dunkler Hort,
Und deines Wipfelmeers gewaltig Rauschen –
Jetzt rede du! Ich lasse dir das Wort!
Verstummt ist Klag und Jubel. Ich will lauschen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Jetzt rede du!“ von Conrad Ferdinand Meyer reflektiert eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Veränderung des inneren Zustands des lyrischen Ichs. Zu Beginn beschreibt der Sprecher den Wald als ein „tägliches Wanderziel“, das in seiner Jugend eine Art Zuflucht und Trost darstellte. Der Wald war für den Sprecher ein Ort, an den er sowohl seine „geträumten Glücks“ als auch seinen „wahren Schmerz“ anvertrauen konnte. Diese Zeilen vermitteln eine enge emotionale Bindung an den Wald, der als Spiegel für die intensiven Gefühle und die Sehnsüchte der Jugend dient. Die „dumpfen Jugendtagen“ könnten auf eine Zeit der Unsicherheit oder des Suchens hinweisen, in der der Wald ein sicherer Raum war, um mit den eigenen Gefühlen in Kontakt zu treten.
Im zweiten Teil des Gedichts kehrt der Sprecher erneut in den Wald zurück, in der Hoffnung, Trost oder Antworten zu finden. Der Wald, als „dunkler Hort“, bleibt eine ständige Quelle der Besinnung. Der Ausdruck „deines Wipfelmeers gewaltig Rauschen“ erweckt das Bild eines mächtigen, bewegten Waldes, der in seiner Größe und Energie den Sprecher zu einer erneuten Auseinandersetzung mit sich selbst einlädt. Doch nun ist die Atmosphäre nicht mehr von jugendlichem Elan oder übermäßiger Freude geprägt. Stattdessen wird ein Zustand der Stille und des Innehaltens beschrieben: „Jetzt rede du! Ich lasse dir das Wort!“. Der Sprecher hat das Bedürfnis, den Wald sprechen zu lassen, ihm zuzuhören und sich von seiner Weisheit oder Ruhe führen zu lassen.
Der letzte Vers – „Verstummt ist Klag und Jubel. Ich will lauschen.“ – zeigt eine spürbare Veränderung im emotionalen Zustand des lyrischen Ichs. Das frühere Bedürfnis, Kummer zu klagen oder Freude auszudrücken, ist nun nicht mehr vordergründig. Stattdessen wünscht sich der Sprecher, in der Stille des Waldes Antworten zu finden und in der Ruhe des Naturgeräusches Trost zu erleben. Es ist ein Moment der Resignation und zugleich der Akzeptanz, dass das Leben nicht immer nur aus Freude oder Schmerz besteht, sondern dass auch die Stille und das Lauschen in der Natur eine Form der Weisheit und des Friedens bieten können.
Meyer thematisiert hier die Suche nach innerer Ruhe und das Finden von Antworten in der Natur, die für den Sprecher sowohl ein Ort des Rückzugs als auch der Erkenntnis darstellt. Der Wald, der einst mit den Emotionen der Jugend überflutet wurde, wird nun zu einem Raum der Besinnung und des Zuhörens, in dem der Sprecher von der äußeren Welt Abstand nimmt, um in der Stille Trost zu finden. Das Gedicht spricht von der Veränderung, die mit dem Älterwerden und der Suche nach tieferem Verständnis des Lebens einhergeht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.