Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , , ,

Die Schlittschuhe

Von

„Hör, Ohm! In deiner Trödelkammer hangt
Ein Schlittschuhpaar, danach mein Herz verlangt!
Von London hast du einst es heimgebracht,
Zwar ist es nicht nach neuster Art gemacht,
Doch damasziert, verteufelt elegant!
Dir rostet ungebraucht es an der Wand,
Du gibst es mir!“ Hier, Junge, hast du Geld,
Kauf dir ein schmuckes Paar, wie dirs gefällt!
„Ach was! Die damaszierten will ich, deine!
Du läufst ja nimmer auf dem Eis, ich meine?“
Der liebe Quälgeist lässt mir keine Ruh,
Er zieht mich der verschollnen Stube zu;
Da lehnen Masken, Klingen kreuz und quer
An Bayles staubbedecktem Diktionär,
Und seine Beute schon erblickt der Knabe
In dunkelm Winkel hinter einer Truhe:
„Da sind sie!“ Ich betrachte meine Habe,
Die Jugendschwingen, die gestählten Schuhe.
Mir um die Schläfen zieht ein leiser Traum…
„Du gibst sie mir!“ … In ihrem blonden Haar,
Dem aufgewehten, wie sie lieblich war,
Der Wangen edel Blass gerötet kaum!…
In Nebel eingeschleiert lag die Stadt,
Der See, ein Boden spiegelhell und glatt,
Drauf in die Wette flogen, Gleis an Gleis
Die Läufer; Wimpel flaggten auf dem Eis…
Sie schwebte still, zuerst umkreist von vielen
Geflügelten wettlaufenden Gespielen –
Dort stürmte wild die purpurne Bacchantin
Hier mass den Lauf die peinliche Pedantin –
Sie aber wiegte sich mit schlanker Kraft
Und leichten Fusses, luftig, elfenhaft
Glitt sie dahin, das Eis berührend kaum
Bis sich die Bahn in einem weiten Raum
Verlor und dann in schmalre Bahnen teilte.
Da lockt‘ es ihren Fuss in Einsamkeiten,
In blaue Dämmerung hinauszugleiten
Ins Märchenreich; sie zagte nicht und eilte
Und sah, dass ich an ihrer Seite fuhr,
Nahm meine Hand und eilte rascher nur.
Bald hinter uns verklang der Menge Schall,
Die Wintersonne sank, ein Feuerball;
Doch nicht zu hemmen war das leichte Schweben,
Der selge Reigen, die beschwingte Flucht,
Und warme Kreise zog das rasche Leben
Auf harterstarrter, geisterhafter Bucht.
An uns vorüber schoss ein Fackellauf
Ein glüh Phantom, den grauen See hinauf…
In stiller Luft ein ungewisses Klingen
Wie Glockenlaut, des Eises surrend Singen…
Ein dumpf Getos, das aus der Tiefe droht –
Sie lauscht, erschrickt, ihr graut, das ist der Tod!
Jäh wendet sie den Lauf, sie strebt zurück,
Ein scheuer Vogel, durch das Abenddunkel,
Dem Lärm entgegen und dem Lichtgefunkel,
Sie löst gemach die Hand … o Märchenglück!…
Sie wendet sich von mir und sucht die Stadt,
Dem Kinde gleich, das sich verlaufen hat –
„Ei, Ohm, du träumst? Nicht wahr, du gibst sie mir,
Bevor das Eis geschmolzen?“ … Junge, hier.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Schlittschuhe von Conrad Ferdinand Meyer

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Schlittschuhe“ von Conrad Ferdinand Meyer ist ein nostalgisch gefärbtes Erinnerungsstück, in dem der Erzähler – durch das Begehr eines Jungen nach einem alten Paar Schlittschuhe – in eine intensive Erinnerung an ein winterliches Liebeserlebnis seiner Jugend zurückversetzt wird. Der scheinbar banale Ausgangspunkt, das Finden eines alten Gegenstands in einer Trödelkammer, entfaltet sich zu einem inneren Monolog voller Poesie, Sehnsucht und stiller Melancholie.

Der erste Teil des Gedichts ist lebendig und dialogisch gestaltet: Der Junge drängt auf die Herausgabe der alten Schlittschuhe, die der Onkel zwar wertschätzt, aber nicht mehr benutzt. In dieser Auseinandersetzung schimmert bereits eine gewisse Wärme und Vertrautheit zwischen den Generationen durch. Als das alte Paar schließlich aus dem Winkel hervorgeholt wird, setzt unvermittelt ein starker, lyrisch-dichter Erinnerungsstrom ein. Die Schlittschuhe werden zum Auslöser eines inneren Bildes – ein symbolträchtiger Gegenstand, der zur Zeitmaschine wird.

Die Erinnerung ist eine traumartige Rückblende auf einen Wintertag, auf einen See, auf eine junge Frau – möglicherweise eine erste Liebe – und ein gemeinsames, fast schwebendes Gleiten über das Eis. Der Kontrast zur lauten, belebten Szenerie anderer Läufer verstärkt die zarte Intimität zwischen dem Ich und der Gleitenden, die sich schließlich seiner Hand anvertraut. Besonders eindrücklich ist die Bewegung in die „Einsamkeiten“, in die „blaue Dämmerung“ – das Eislaufen wird hier zu einem Bild für jugendliche Freiheit, Leichtigkeit und das kurze, fast überirdisch wirkende Glück einer Nähe, die im Schweben begriffen ist.

Doch dieses Glück bleibt nicht ungetrübt. Ein geheimnisvolles Grollen im Eis, das „dumpfe Getos“, kündigt Gefahr an, symbolisch für das Hereinbrechen von Angst, Zeit oder gar Endlichkeit. Die junge Frau erschrickt und kehrt zur sicheren, belebten Stadt zurück – sie entgleitet dem Sprecher buchstäblich und bildlich. Das Bild vom scheuen Vogel, der sich verirrt hat, unterstreicht die Zerbrechlichkeit dieses Moments. Was bleibt, ist Erinnerung – und die Wehmut darüber, dass das Märchenglück nicht gehalten werden konnte.

Mit dem wieder einsetzenden Dialog mit dem Jungen am Schluss kehrt das Gedicht zurück in die Gegenwart. Die Geste, dem Jungen die Schlittschuhe zu überlassen, wirkt versöhnlich – als würde der Sprecher sein eigenes, vergangenes Glück weitergeben oder zumindest zulassen, dass ein anderer es neu erleben darf. „Die Schlittschuhe“ ist somit ein tief empfundener Text über Vergänglichkeit, erste Liebe, Erinnerung und die stille Melancholie des Alterns – getragen von Meyers dichter Bildsprache und der Kunst, alltägliche Dinge in poetische Bedeutung zu überführen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.