In seinem Sessel…
In seinem Sessel, behaglich dumm,
Sitzt schweigend das deutsche Publikum.
Braust der Sturm herüber, hinüber,
Wölkt sich der Himmel düster und trüber,
Zischen die Blitze schlängelnd hin,
Das rührt es nicht in seinem Sinn.
Doch wenn sich die Sonne hervorbeweget,
Die Lüfte säuseln, der Sturm sich leget,
Dann hebt’s sich und macht ein Geschrei,
Und schreibt ein Buch: „der Lärm sei vorbei.“
Fängt an darüber zu phantasieren,
Will dem Ding auf den Grundstoff spüren,
Glaubt, das sei doch nicht die rechte Art,
Der Himmel spaße auch ganz apart,
Müsse das All systematischer treiben,
Erst an dem Kopf, dann an den Füßen reiben,
Gebärd’t sich nun gar, wie ein Kind,
Sucht nach Dingen, die vermodert sind,
Hätt‘ indessen die Gegenwart sollen erfassen,
Und Erd‘ und Himmel laufen lassen,
Gingen ja doch ihren gewöhnlichen Gang,
Und die Welle braust ruhig den Fels entlang.
(Gedichte, meinem treuen Vater zum Geburtstage)
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „In seinem Sessel…“ von Karl Marx beschreibt eine kritische Beobachtung der passiven Haltung des „deutschen Publikums“. Das Bild des Publikums, das „behaglich dumm“ im Sessel sitzt und sich von den äußeren Stürmen nicht beirren lässt, symbolisiert eine Gesellschaft, die in ihrer Bequemlichkeit verharrt, während die Welt um sie herum in Aufruhr ist. Diese Darstellung zeigt die Arroganz oder Gleichgültigkeit der Menschen, die sich nicht für die tiefgreifenden, dringlichen Veränderungen in ihrer Umgebung interessieren.
Die Naturereignisse wie Sturm und Blitze, die das Bild von turbulenten Veränderungen und sozialen Kämpfen vermitteln, sind nur Metaphern für die gesellschaftlichen Umbrüche, die das passive Publikum jedoch nicht berühren. Es ist erst die „Sonne“, die Ruhe und angenehme Bedingungen bringt, die das Publikum dazu bringt, sich zu rühren, jedoch nur um nachträglich und oberflächlich zu reagieren. Dieser späte Versuch, „über das Ding zu phantasieren“, zeigt die Tendenz, die Realität zu ignorieren, bis es zu spät ist, oder sie nur auf eine theoretische Weise zu betrachten, ohne sich der wahren Probleme zu stellen.
Die zweite Strophe macht deutlich, wie das Publikum beginnt, „über das Buch“ zu spekulieren und in überflüssige, abstrakte Analysen zu verfallen. Die Gesellschaft wird als naiv und vermessen dargestellt, da sie versucht, die Welt in ein übersichtliches und systematisches Schema zu pressen, ohne sich mit der tatsächlichen, praktischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Das Gedicht kritisiert somit eine intellektuelle Welt, die sich in unnötigen Spekulationen verliert und die sozialen Realitäten übersieht.
Die abschließende Verszeile, in der das Publikum mit der Vorstellung eines „Kindes“ verglichen wird, das nach „vermoderten“ Dingen sucht, bringt die Naivität und Unreife der Gesellschaft zum Ausdruck. Statt sich mit den konkreten Herausforderungen der Gegenwart auseinanderzusetzen, wird in der Vergangenheit geschwelgt. Das Gedicht schließt mit der Erinnerung daran, dass die Welt und ihre natürlichen Prozesse ihren gewohnten Gang gehen, während der Mensch in seiner Selbstgenügsamkeit und Blindheit nicht in der Lage ist, diese Prozesse zu erkennen oder zu verändern. Marx fordert eine wachsamere, aktivere Haltung gegenüber der Realität, anstatt sich in theoretischen Überlegungen zu verlieren.
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Lizenz und Verwendung
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