Abendlicht
Am Waldesrande ging ein armes Weib,
Das jüngste Kind lag an der matten Brust,
Und an der rechten Hand hielt sie das andre.
Das jauchzte auf in kindlich heller Lust,
Als durch die Baumeskronen golden glänzte
Das Abendlicht der Sonne und den Pfad
Mit einem lichten, letzten Strahl beschien,
In den der Fuß des armen Kindes trat.
Da ließ es schnell die Hand der Mutter los
Und beugte nieder sich, den hellen Schein
Mit seinen Händchen zu erfassen. Doch
Die Mutter sprach: „Komm weiter! Laß das sein!
Das da – ist nicht für uns!“ – und zog es auf.
Und weiter schritten sie, indes zur Rüste
Die Sonne ging, aufflammend heiß und fahl.
Des Weibes abgehärmte Züge küßte,
Die toten Augen lind ihr letzter Strahl.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Abendlicht“ von John Henry Mackay behandelt die Themen Armut, Hoffnung und die schmerzhafte Realität des Lebens. Zu Beginn wird ein armes Weib beschrieben, das mit zwei Kindern am Waldesrand unterwegs ist. Das Bild des „jüngsten Kindes“, das an der „matten Brust“ der Mutter liegt, und des anderen Kindes, das „jauchzt in kindlich heller Lust“, schafft eine Kontrastfolie zwischen der Unschuld und Freude der Kinder und der schweren Last, die die Mutter trägt. Die Mutter ist gezeichnet von Armut und Sorgen, was sich in ihrem „abgehärmten“ Aussehen zeigt. Doch die Kinder repräsentieren eine Leichtigkeit und Freude, die die Last der Mutter für einen Moment aufhellt.
Die „goldenen“ Strahlen des Abendlichts, das durch die Baumeskronen glänzt und den Pfad beleuchtet, symbolisieren einen letzten, flimmernden Moment von Schönheit und Hoffnung. Der „lichte, letzte Strahl“ der Sonne wird zu einem Symbol für flüchtige, vergängliche Glücksmomente, die im Leben des armen Paares plötzlich auftauchen, aber nie lange bleiben. Das Kind, das nach dem Licht greift, sieht diesen Moment als eine Quelle von Freude und Neugier, ohne die schweren Umstände zu begreifen, die es umgeben. Doch die Mutter zieht es zurück und spricht die Mahnung: „Das da – ist nicht für uns!“ Diese Worte symbolisieren die harte Realität, der die Familie ausgesetzt ist. Der „helle Schein“ des Abendlichts ist nur ein unerreichbares Ideal, das sich nicht in die mühsame Existenz der Mutter und ihrer Kinder einfügt.
Der Konflikt zwischen der kindlichen Freude und der erwachsenen Einsicht wird hier deutlich: Das Kind sehnt sich nach dem Licht, nach etwas Schönem und Positivem, während die Mutter die harsche Realität kennt und sich bewusst ist, dass solche flüchtigen Momente für sie unerreichbar sind. Die Handlung des „Ziehen“ symbolisiert die Notwendigkeit, die Träume und Wünsche der Kinder zu dämpfen, um ihnen die ungeschönte Wahrheit des Lebens näherzubringen.
Im letzten Vers wird die Sonne als „aufgeflammt heiß und fahl“ beschrieben, was auf den nahen Untergang des Tages und die unerbittliche Dunkelheit des Lebens hinweist. Der „letzte Strahl“ der Sonne küsst die „abgehärmten Züge“ der Mutter und die „toten Augen“ – eine Metapher für den emotionalen und körperlichen Schmerz, den sie erträgt. Die Mutter ist nicht nur von der physischen Erschöpfung gezeichnet, sondern auch von einer inneren Müdigkeit, die durch die Lebensbedingungen hervorgerufen wird. Der letzte Strahl der Sonne wird zu einem symbolischen Akt des Trostes, der ihre Leiden lindert, jedoch nur für einen kurzen Moment. Die Kälte und Härte des Lebens kehren sofort wieder zurück, sobald der letzte Lichtstrahl verschwindet. Mackay fängt auf eindrucksvolle Weise die Zerbrechlichkeit des Lebens und die Schwierigkeit, Hoffnung in einer Welt voller Entbehrungen zu finden, ein.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.