Opfer
Keine Kletterrosen umklammern
Die gelben Pfeiler im Garten mehr.
Nun steigst du in die Waffenkammern
Tief innen und sie sind leer.
Ein Fernweh war an dein Ohr gebogen
Und sprach etwas hinein.
Von Geisternähe angesogen,
Ließ dich dein Herz allein.
So wieder und nochmals. Du hast nicht verstanden.
Oh, schönster Jahre Entscheid!
Der kam abhanden, doch nicht kam abhanden
Ein leis erinnerndes Leid.
Der Weltlärm will seinen Atem nicht dulden,
Er schleifte es trommelnd vorbei.
Du gabst es zum Opfer, damit dein Verschulden
Mitgeopfert sei.
Auftun wird sich und Rosen entsenden
Die leere Wolkenwand.
Trauer zu trösten, ein Werk zu vollenden,
Gut ist die leere Hand.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Opfer“ von Oskar Loerke ist eine leise, elegische Reflexion über Verlust, Verzicht und innere Wandlung. In dichter, bildreicher Sprache entfaltet es eine seelische Bewegung, die von verpassten Möglichkeiten, unverständlichem Fernweh und schließlich zu einer versöhnenden, fast transzendenten Leere führt. Im Zentrum steht das Motiv des „Opfers“, das nicht nur eine äußere Handlung, sondern eine tiefe innere Entscheidung und Reinigung bedeutet.
Gleich zu Beginn setzt Loerke mit einem Bild des Vergehens ein: Die Kletterrosen umklammern die Gartenpfeiler nicht mehr – ein Zeichen für den Verlust von Lebendigkeit, von Schönheit oder auch Liebe. Die anschließende Bewegung in die „Waffenkammern“ des Inneren, die sich als leer erweisen, legt nahe, dass die einstige Kraft oder Bereitschaft zu kämpfen – vielleicht für eine Liebe, eine Überzeugung – verschwunden ist. Es ist ein Rückzug in die Tiefe der eigenen Seele, doch dort herrscht Leere.
Ein geheimnisvolles „Fernweh“ spricht ins Ohr, ruft eine innere Sehnsucht wach, ein unerklärlicher Drang nach etwas anderem, Größerem, das jedoch nicht greifbar ist. Die Nähe zu „Geistern“ kann sowohl eine spirituelle Erfahrung als auch eine tiefe emotionale Berührung meinen. Doch das Herz bleibt allein, die Bewegung führt nicht zur Erfüllung, sondern zu einem erneuten Zurückgeworfensein auf sich selbst. Die schönste Entscheidung der Jugendjahre – vielleicht ein Moment großer Liebe oder innerer Wahrheit – wird nicht verstanden, nicht bewahrt.
In der vierten Strophe wird das eigentliche Opfer benannt: Etwas Wesentliches ging verloren im Lärm der Welt, im Getöse der Zeit. Das lyrische Ich hat es aufgegeben, „damit dein Verschulden / Mitgeopfert sei“. Das Opfer wird zur Sühne, zur Geste der inneren Klärung – doch es bleibt schmerzhaft, weil es endgültig ist. Der Verlust ist bewusst vollzogen, nicht durch Zufall geschehen.
Das Gedicht schließt mit einer zarten, beinahe tröstlichen Wendung. Die „leere Wolkenwand“ wird sich auftun und Rosen entsenden – das Bild schlägt die Brücke zurück zu den eingangs erwähnten Kletterrosen und bringt eine Ahnung von Hoffnung und Versöhnung. Die „leere Hand“, Symbol für das Aufgeben, das Loslassen, wird positiv gewendet: Gerade sie ist fähig zu empfangen, zu trösten, zu vollenden.
„Opfer“ ist ein stilles, tiefgründiges Gedicht über die innere Konsequenz einer Entscheidung, über den Verzicht als Form der Reifung und die Leere als Möglichkeit neuer Fülle. Loerke gelingt es, Schmerz und Hoffnung in eine dichte, poetische Form zu fassen, die lange nachklingt.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.