Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , ,

Keilschriftzylinder

Von

Auf braunen Tonzylindern winden sich die Zeilen
Weiser Schrift, im Feuer erprobt, im Ofen gebacken;
In Spiralen ein Gedränge von Keilen,
Die wie Schnäbel nach dem Weltsinn hacken.

Am Ende winden sie sich in das Leere
Auf unsichtbaren Wendeltreppen weiter.
Aus Tiefer und Höher trifft an jeder Kehre
Ein Reim sich auf der schiefen Himmelsleiter.

Das Berghorn schreibt sich ein aus Nebelbrauen,
Der Wildgansflug klatscht an mit offnen Fächern,
Und in die letzten Riesenreihen tauen
Die Demantkeile von den Himmelsdächern. –

Vergessen der Segen, den unten die Zeichen erbaten, –
Der Schatten der Bäume zog viele Zirkel im Rasen.
Vergessen der Zauber, den die Zylinder geraten,
Das Heilkraut – Pulver in Apothekervasen

Verfallen der Ofen, seine Ziegel zerbrochen,
Längst verzogen der Qualm seiner Scheiter.
Verwest die Schreiber, zerstaubt ihre Knochen –
Von selbst dichtet die Welt sich weiter.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Keilschriftzylinder von Oskar Loerke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Keilschriftzylinder“ von Oskar Loerke beschäftigt sich mit der Vergänglichkeit von Wissen und Kultur, wobei die Keilschrift als Symbol für diese Entwicklungen dient. Die „braunen Tonzylinder“ stellen eine Verbindung zu alten Zivilisationen dar, in denen Wissen auf Tontafeln niedergeschrieben wurde. Die „Spiralen“ und „Keile“ sind nicht nur stilistische Merkmale der Keilschrift, sondern verdeutlichen auch das kontinuierliche Streben nach dem „Weltsinn“, dem Verständnis von der Welt, das stets im Wandel ist.

Im zweiten Teil des Gedichts wird das Bild der Wendeltreppen und der „schiefen Himmelsleiter“ eingeführt. Diese Bilder deuten auf eine Reise des Wissens hin, die in unterschiedliche Richtungen führt – sowohl nach oben als auch nach unten, von „Tiefer und Höher“. Die Reime an jeder Kehre verstärken den Eindruck von wiederholtem und fortwährendem Streben, wobei das Ziel möglicherweise immer unerreichbar bleibt. Die „Wendeltreppen“ können auch als Metapher für den ewigen Fluss von Gedanken und Ideen verstanden werden.

In den nächsten Versen wird die Vergänglichkeit der erlangten Erkenntnisse thematisiert. Die „Demantkeile von den Himmelsdächern“ und das Bild des „Wildgansflugs“ stehen für eine Flucht in das Unendliche, das dem menschlichen Verstehen entglitten ist. Hier wird der Kontrast zwischen dem Streben nach Wissen und der Endlichkeit der menschlichen Existenz auf poetische Weise sichtbar. Es bleibt eine Spurenlosigkeit in der Natur, die durch den Verfall des „Ofens“ und den Zerfall der „Schreiber“ symbolisiert wird.

Der letzte Abschnitt bringt die Ernüchterung und den Verlust von Wissen und Bedeutung zum Ausdruck. Das „Heilkraut“ und die „Pulver in Apothekervasen“ erinnern an den Verlust von Heilwissen und das Vergessen von Zauber und Bedeutung, die einst den Zylindern innewohnten. Der Ofen, als Symbol für den Ort des Wissens, ist verfallen, die Ziegel zerbrochen. Am Ende bleibt die Welt sich selbst überlassen – sie „dichtet sich weiter“, was darauf hinweist, dass die Menschheit weiterhin versucht, Sinn und Bedeutung zu erschaffen, auch wenn viel von dem, was einst als bedeutend galt, verloren gegangen ist.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.