Wohin?
Ich hört′ ein Bächlein rauschen
Wohl aus dem Felsenquell,
Hinab zum Tale rauschen
So frisch und wunderhell.
Ich weiß nicht, wie mir wurde,
Nicht, wer den Rat mir gab,
Ich mußte auch hinunter
Mit meinem Wanderstab.
Hinunter und immer weiter
Und immer dem Bache nach,
Und immer frischer rauschte
Und immer heller der Bach.
Ist das denn meine Straße?
O Bächlein, sprich, wohin?
Du hast mit deinem Rauschen
Mir ganz berauscht den Sinn.
Was sag ich denn vom Rauschen?
Das kann kein Rauschen sein:
Es singen wohl die Nixen
Tief unten ihren Reihn.
Laß singen, Gesell, laß rauschen
Und wandre fröhlich nach!
Es gehn ja Mühlenräder
In jedem klaren Bach.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Wohin?“ von Wilhelm Müller ist ein lyrisches Ich, das sich von einem rauschenden Bach unwiderstehlich angezogen fühlt und sich fragt, wohin dieser Weg ihn führen mag. Das Gedicht beschreibt eine Wanderung, die weniger von einem bewussten Ziel als von einer inneren Sehnsucht getrieben wird.
Die ersten Strophen schildern die sinnliche Wahrnehmung des Baches. Das Rauschen, die Frische und das helle Wasser üben eine starke Anziehungskraft aus. Das lyrische Ich wird geradezu hypnotisiert und folgt dem Bach ohne rationale Überlegung. Es entsteht der Eindruck einer intuitiven, ja fast unbewussten Entscheidung. Die Frage „Ich weiß nicht, wie mir wurde, / Nicht, wer den Rat mir gab“ deutet auf ein Gefühl der Fremdbestimmung hin, als ob eine höhere Macht oder ein unbewusster Trieb ihn lenkt.
In der vierten Strophe kulminiert die Verunsicherung des lyrischen Ichs. Die Frage „Ist das denn meine Straße? / O Bächlein, sprich, wohin?“ verdeutlicht, dass es sich seiner Ziellosigkeit bewusst wird. Das Rauschen des Baches hat ihn „berauscht“, also seine Sinne verwirrt und ihn von klarem Denken abgehalten. Die folgende Strophe deutet eine mögliche Erklärung für diese Faszination an: Das Rauschen wird als Gesang von Nixen interpretiert, wodurch die Szene ins Mythische überhöht wird.
Die letzte Strophe bietet eine ambivalente Auflösung. Einerseits wird das lyrische Ich aufgefordert, dem Rauschen zu folgen und sich der ungestümen Kraft des Baches hinzugeben. Andererseits wird die Frage nach dem Ziel relativiert: „Es gehn ja Mühlenräder / In jedem klaren Bach.“ Diese Aussage impliziert, dass auch ohne ein konkretes Ziel das Folgen des Baches sinnvoll sein kann, da es letztendlich zur Verrichtung einer Arbeit (das Drehen der Mühlenräder) beiträgt. Das Gedicht endet somit in einer offenen Frage, die den Leser dazu anregt, über die Bedeutung von Ziel und Weg im Leben nachzudenken.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.