Tränenregen
Wir saßen so traulich beisammen
Im kühlen Erlendach,
Wir schauten so traulich zusammen
Hinab in den rieselnden Bach.
Der Mond war auch gekommen,
Die Sternlein hinterdrein,
Und schauten so traulich zusammen
In den silbernen Spiegel hinein.
Ich sah nach keinem Monde,
Nach keinem Sternenschein,
Ich schaute nach ihrem Bilde,
Nach ihren Augen allein.
Und sahe sie nicken und blicken
Herauf aus dem seligen Bach,
Die Blümlein am Ufer, die blauen,
Sie nickten und blickten ihr nach.
Und in den Bach versunken
Der ganze Himmel schien
Und wollte mich mit hinunter
In seine Tiefe ziehn.
Und über den Wolken und Sternen,
Da rieselte munter der Bach
Und rief mit Singen und Klingen:
Geselle, Geselle, mir nach!
Da gingen die Augen mir über,
Da ward es im Spiegel so kraus;
Sie sprach: Es kommt ein Regen,
Ade, ich geh nach Haus.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Tränenregen“ von Wilhelm Müller fängt eine melancholische und zugleich idyllische Szene ein, in der die Natur als Spiegel der inneren Gefühlswelt des lyrischen Ichs fungiert. Die anfängliche trauliche Atmosphäre am Bach wird durch die Einbeziehung von Mond und Sternen verstärkt, die gemeinsam in das Wasser blicken, wodurch eine romantische und fast magische Stimmung erzeugt wird. Die Natur wird personifiziert und scheint an der stillen Zweisamkeit teilzunehmen.
Im Zentrum der Beobachtung steht jedoch nicht die äußere Natur, sondern die Geliebte. Das lyrische Ich fixiert sich ausschließlich auf ihr Spiegelbild im Wasser, auf ihre Augen. Dies deutet auf eine tiefe Zuneigung und Konzentration auf die Person, die ihm am wichtigsten ist. Die Blümlein am Ufer, die ihr nachnicken und blicken, verstärken das Bild einer idealisierten, fast überirdischen Schönheit. Diese Fokussierung auf die Geliebte führt zu einem Gefühl der Entrückung und des Verschmelzens mit der Natur.
Die folgende Beschreibung, wie der ganze Himmel im Bach versinkt und das lyrische Ich in die Tiefe ziehen will, symbolisiert eine tiefe Sehnsucht und möglicherweise auch eine Gefahr, sich in der Liebe und in der Betrachtung der Geliebten zu verlieren. Der Bach wird zu einer Metapher für die überwältigende Kraft der Emotionen, die das Ich zu verschlingen droht. Der Ruf des Baches, „Geselle, Geselle, mir nach!“, verstärkt diesen Eindruck einer drohenden Auflösung in der Natur und den Gefühlen.
Das Gedicht endet mit einer abrupten Wendung. Die Augen des lyrischen Ichs füllen sich mit Tränen, der Spiegel wird trüb, und die Geliebte erklärt, dass es regnet und sie nach Hause geht. Dieser plötzliche Abbruch der romantischen Szene durchbricht die Idylle und lässt das lyrische Ich allein mit seinen Gefühlen zurück. Der „Regen“ könnte sowohl ein tatsächlicher Regen als auch eine Metapher für die Tränen des lyrischen Ichs und den Abschied von der Geliebten sein. Der abrupte Abschied lässt eine Melancholie und ein Gefühl des Verlustes zurück, was die Ambivalenz der Liebe und die Vergänglichkeit des Glücks unterstreicht.
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Lizenz und Verwendung
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