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Martje Flors Trinkspruch

Von

Vor Tönning, auf Katharinenherd,
Zechen Steenbocks Offiziere.
Sie haben fleißig die Humpen geleert,
Der Weiser zeigt auf früh viere.

Durchs Fenster glüht das Morgenrot
Auf die trunknen Cavaliere,
Auf ihre Sturmhauben á la Don Quixote,
Die verschobnen Bandeliere.

Auf im Nacken schwankenden Federhut,
Auf Koller und spiegelnde Sporen,
Auf ihr in Hitze geratnes Blut,
Auf manchen „hochedelgeboren“.

Der eine hat’s Elend, der andere lacht,
Zwei haben den Pallasch gezogen,
Der stiert vor sich hin wie in Geistesnacht,
Der äfft nach den Fidelbogen.

Zwei andre halten Verbrüderungsfest,
„Herzbruder“ schwimmt im Pokale.
Und der unten am Tisch säuft Rest aus auf Rest
Und denkt an keine Finale.

Da tritt ein kleines Mädchen herein,
Und steht mitten im wüsten Quartiere.
Martje Flor ist’s, des Wirtes Töchterlein,
Zehn Jahr‘ nach dem Taufpapiere.

Sie nimmt das erste beste Glas
Und hebt sich auf die Zehe:
„Auf daß es im Alter, ich trink euch das,
Im Alter uns wohlergehe“.

Mit weit offnem Munde, mit bleichem Gesicht
Steht die ganze besoffne Bande
Und starrt entsetzt und rührt sich nicht,
Und steht wie am Abgrundsrande. –

In Schleswig denken sie heut noch erbost
An die schwedschen Klauen und Klingen
Und denken dankbar an Martjes Toast,
Wenn sie die Becher schwingen.

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Gedicht: Martje Flors Trinkspruch von Detlev von Liliencron

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Martje Flors Trinkspruch“ von Detlev von Liliencron verbindet historische Anspielungen mit humorvoller Gesellschaftskritik und einem überraschenden Wendepunkt, der dem scheinbar ausgelassenen Trinkgelage eine tiefere, patriotische Bedeutung verleiht. Im Zentrum steht die Titelfigur Martje Flor, ein Kind, das in einer Szene voller Trunkenheit und Zügellosigkeit plötzlich zum moralischen Mittelpunkt wird.

Eingebettet ist das Geschehen in eine nächtliche oder frühmorgendliche Szene auf dem Katharinenherd bei Tönning, wo schwedische Offiziere in barocker Opulenz und Trunkenheit feiern. Die Beschreibung ihrer Uniformen, der Sturmhauben „á la Don Quixote“ und ihres überdrehten Verhaltens erzeugt ein lebendiges, leicht groteskes Bild. Liliencron nutzt hier satirische Übertreibung und Kontraste zwischen dem soldatischen Ideal und der tatsächlich enthemmten Truppe, um eine dekadente und entgleiste Militärgesellschaft zu skizzieren.

Die Situation kippt abrupt, als Martje Flor – ein zehnjähriges Mädchen – den Raum betritt. Ihr Auftreten wirkt wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt: kindlich, schlicht, aber zugleich unerschrocken und von einer inneren Würde getragen. Ihr Trinkspruch, „Auf daß es im Alter, ich trink euch das, / Im Alter uns wohlergehe“, bricht mit der festlichen Stimmung und trifft die Offiziere unvorbereitet. Ihre Worte wecken das Gewissen der Versammelten, die plötzlich verstummen und sich wie „am Abgrundsrande“ fühlen – eine starke Bildsprache, die das Erwachen aus der Trunkenheit mit einem existenziellen Erschrecken verknüpft.

Die letzte Strophe schlägt eine Brücke zur historischen Erinnerung. Die Schwedenzeit, in der das Gedicht spielt, war für Schleswig mit Krieg und Leid verbunden. Martjes mutiger Toast wird in der kollektiven Erinnerung zum Akt der Gegenwehr, zum stillen Ausdruck nationalen Stolzes. Die triviale Szene wird so zu einem Symbol für Heimatbewusstsein und moralische Klarheit in Zeiten der Fremdherrschaft.

Insgesamt gelingt Liliencron mit „Martje Flors Trinkspruch“ eine eindrucksvolle kleine Szene, die mit szenischer Dichte, Sprachwitz und überraschender Tiefe arbeitet. Die klare Kinderstimme durchdringt das lärmende Chaos der Erwachsenenwelt und macht das Gedicht zu einer poetischen Parabel über Mut, Gewissen und die Kraft des Wortes.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.