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Kleine Geschichte

Von

Frühsommer wars, am Nachmittag.
Der Weißdorn stand in Blüte.
Ich ging allein durch Feld und Hag
Mit sehnendem Gemüte.

Es trieb mich in den Tag hinein
Ein zärtliches Verlangen
Nach dunkler Laube Dämmerschein
Und weichen Mädchenwangen.

Ich fand ein Wirtshaus, alt, bestroht,
Umringt von Baumgardinen.
Die alte Frau am Eingang bot
Gebäck und Apfelsinen.

Im Garten: Schaukeln, Karoussel,
Und Zelte, übersonnte.
Ein Scheibenstand, wo man als Tell
Den Apfel schießen konnte.

Den Affen zeigt Neapels Sohn,
Die Kegelkugeln rollen.
Dort steigt ein roter Luftballon,
Um den die Kinder tollen.

Musik, Gelächter, Hopsasa,
Wo bleibt das hübsche Mädchen.
Da plötzlich in dem Tralala
Ein allerliebstes Käthchen.

Das war ein gar zu liebes Ding,
Goldregenüberbogen.
Just kam ein kleiner Schmetterling
Dicht ihr vorbeigeflogen.

Ich stutzte überraschungsfroh,
Schaut‘ ihr in Auges Tiefe.
Wenn auch ihr Blick mich immer floh,
Die Augen waren Briefe:

„Geh‘ langsam durch den Garten hier,
Auf buntbelebten Wegen.
Wir treffen uns, ich komme dir
Von ungefähr entgegen.“

So wandr‘ ich denn, und wie der Dieb
Schiel‘ ich in Näh‘ und Weite,
Ob bei der Mutter sie verblieb,
Ob sie mir an der Seite.

Indessen steht sie neben mir –
Ich kann nicht Worte finden.
Ein zwei, drei Zoll lang Fädchen schier
Könnt‘ uns zusammenbinden.

Im Saale trommelts, quikt und quackt
Der Geiger und der Pfeifer.
Wir tanzen bald in regem Takt
Den alten deutschen Schleifer.

Ich drücke sanft die kleine Hand,
Sie drückt die Hand mir wieder.
Wo dann den Weg mit ihr ich fand,
Da leuchtete der Flieder.

Bleib hier, bleib hier, bis Tageslicht
Und letztes Rot verblassen.
„Ach, Liebster, länger darf ich nicht
Die Mutter warten lassen.“

Bleib hier, ich zeige dir den Stern,
Wo einst wir uns gesehen.
Sieht er uns hier vom Himmel fern,
Dann bleibt er grüßend stehen.

„Laß mich, Herzallerliebster mein,
Die Mutter sucht im Garten“.
So schleiche dir ich hinterdrein,
Und will im Dunkel warten.

Wenn alles schwarz und still im Haus,
Dann wart‘ ich in der Laube.
Wenn alles still, dann komm heraus,
Du meine weiße Taube.

Es klingt die Thür, und gleich darauf
Huscht sie zu mir hernieder,
„Pst, nicht so stürmisch, hör‘ doch auf,
Du weckst die Mutter wieder.“

Von tausend Welten überdacht,
Die ruhig weiter gehen.
Es zog ein Stern um Mitternacht,
Und grüßend blieb er stehen.

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Gedicht: Kleine Geschichte von Detlev von Liliencron

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Kleine Geschichte“ von Detlev von Liliencron erzählt in leichtfüßiger, balladenähnlicher Form die zarte und doch intensive Begegnung eines jungen lyrischen Ichs mit einem Mädchen an einem frühsommerlichen Tag. Die Erzählung ist in eine romantisch-idyllische Szenerie eingebettet und entwickelt sich aus der Perspektive eines empfindsamen Beobachters, der von einem unbestimmten Verlangen durch Natur und Dorfwelt getrieben wird.

Die ersten Strophen zeichnen ein atmosphärisches Bild eines warmen Nachmittags, an dem das lyrische Ich durch blühende Landschaften wandert. Dieses Naturbild geht nahtlos in die Beschreibung eines ländlichen Festes über – mit Schaukeln, Karussell, Jahrmarktsständen und Musik –, das wie eine lebendige Kulisse für die beginnende Liebesgeschichte dient. Inmitten dieser bunten, lebhaften Szenerie erscheint das Mädchen „Käthchen“, das durch seine Unschuld und Zartheit hervorsticht. Ihr Anblick wird poetisch verklärt, etwa durch den Vergleich mit einem vorbeifliegenden Schmetterling und dem „Goldregenüberbogen“.

Die Liebesgeschichte entfaltet sich beinahe wortlos, getragen von Blicken, Gesten und stiller Übereinkunft. Das Mädchen spricht zunächst nur mit den Augen, ihr Verhalten wirkt schüchtern und doch offen für eine vorsichtige Annäherung. Die gemeinsame Erfahrung eines Tanzes – des „alten deutschen Schleifers“ – wird zum Wendepunkt, in dem Körperlichkeit, Rhythmus und Nähe auf eine stille, innige Weise erlebbar werden. Der Flieder am Weg steht dabei symbolisch für aufblühende Liebe.

Auch das spätere nächtliche Treffen ist von Zurückhaltung und heimlicher Leidenschaft geprägt. In der Laube, fernab der Kontrolle der Mutter, wird das Liebeserlebnis weiter vertieft. Die Szene bleibt dezent angedeutet, jedoch schwingt ein Gefühl von Erfüllung mit. Der Schlusspunkt ist von stiller, fast kosmischer Harmonie geprägt: Der Stern, der um Mitternacht „grüßend stehen bleibt“, wird zum Sinnbild einer über die vergängliche Nacht hinausreichenden, vielleicht ewigen Verbindung.

„Kleine Geschichte“ vereint romantische Schwärmerei, sinnliche Wahrnehmung und ein feines Gespür für Natur und Atmosphäre. Liliencron gelingt es, die Stimmung eines Sommertages, das erste Verliebtsein und die leise Magie der Nacht mit einfachen, aber wirkungsvollen Bildern einzufangen – eine kleine Geschichte, die in ihrer Zartheit nachhallt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.