Alles in unserer Zeit ist archäologisch geworden,
Und das Alterthum gilt mehr als im Alterthum einst.
Vetturine sind nun von klassischem Schwindel ergriffen:
Alsbald, wie sie dein Thor, ewige Roma passirt;
Rasch den Corso hinab, mit Wagen, Gepäck und mit Rossen
Geht′s in den Tempel sogleich, in die Dogana hinein.
Tempel des Antoninus Pius
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Tempel des Antoninus Pius“ von Wilhelm Friedrich Waiblinger ist eine ironische Reflexion über die Mode der Klassikbegeisterung und den damit verbundenen Verlust an Authentizität in der Zeit des Autors. Es beginnt mit einer Feststellung des Verlusts ursprünglicher Werte und einer zunehmenden Wertschätzung des Altertums über die Zeit der Antike selbst. Der Dichter deutet an, dass das Altertum zum Fetisch, zu einem Objekt archäologischer Obsession geworden ist, das die Realität und die gelebte Gegenwart ersetzt.
Die folgenden Verse beschreiben das Verhalten der „Vetturine“ – wohlhabende Reisende, die vom „klassischen Schwindel“ ergriffen sind. Dieser Ausdruck deutet auf eine Täuschung oder eine falsche Wahrnehmung der Antike hin, die durch das neu erwachte Interesse an der Antike verursacht wurde. Anstatt die Stadt Rom und ihre zeitgenössischen Sehenswürdigkeiten zu erkunden, eilen die Reisenden direkt nach ihrer Ankunft durch das Tor in den Tempel. Dieser eilige Besuch unterstreicht die oberflächliche Natur ihrer Begeisterung und die Priorität, die sie der archäologischen Erfahrung gegenüber der Auseinandersetzung mit der Gegenwart einräumen.
Die kurze, direkte Beschreibung des Reisewegs vom Corso zum Tempel und zur Dogana, dem Zollamt, verstärkt den Eindruck von Hast und einer routinemäßigen Erledigung. Die Erwähnung von „Wagen, Gepäck und Rossen“ suggeriert eine gewisse Dekadenz und den Wunsch, sich einen Anschein von kultivierter Bildung zu geben, der aber im Kern hohl ist. Der Tempel des Antoninus Pius wird hier zum Inbegriff dieser Scheinheiligkeit, ein symbolischer Ort, der von den Reisenden besucht wird, nicht aus tief empfundener Ehrfurcht, sondern aus der Notwendigkeit heraus, einen Haken hinter eine vorgegebene kulturelle Erfahrung zu setzen.
Waiblingers Gedicht ist eine subtile Kritik an der Romantik und dem wachsenden Interesse an der Antike, die er als oberflächlich und von wahrer Wertschätzung entkoppelt sieht. Die Ironie liegt in der Diskrepanz zwischen dem Anspruch, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, und dem tatsächlichen Verhalten, das von Hektik, oberflächlicher Rezeption und dem Wunsch nach Selbstdarstellung geprägt ist. Es ist ein Kommentar zur Modeerscheinung der Klassik, die die Authentizität der Erfahrung durch ein vorgesetztes Ideal ersetzt.
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