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Die Macht der Musik

Von

An einem Maitag, weit von Haus,
Lag ich im Fenster schon hinaus
Des Morgens früh um viere.
Still träumt die Stadt, kein Hund ist wach,
Kein Rauch umkräuselt traut das Dach,
Noch schlafen Mensch und Tiere.

Auf einmal, unter mir vorbei,
Ging eine kleine Küchenfei,
Ein Kind von acht, neun Jahren.
Sie sieht mich nicht – dsching, tut und quiek,
Klingt her die Regimentsmusik
Im Schritt der Janitscharen.

Das Mädel stutzt. Der Korb am Arm
Faßt Eier, Wurst und andern Kram:
Mais, Reis und Pomeranzen.
Da gehts nicht mehr, sie setzt ihn hin,
Und nur zu tanzen ist ihr Sinn,
Und sie fängt an zu tanzen.

Fern die Musik, klingklang rumbum;
Sie tanzt und tanzt, rechtsum, linksum,
Reizend, wie Engel schweben.
Her, hin und her, sie ist allein,
Umblitzt vom ersten Sonnenschein,
Dem Trieb ganz hingegeben.

Mal kratzt sie sich den krausen Kopf,
Der Spatz machts so mit seinem Schopf,
Das tut sie nicht anfechten.
Doch plötzlich hört der Taumel auf,
Sie nimmt den Korb, setzt sich in Lauf,
Es fliegen ihre Flechten.

Hin zur Musik! Sie läuft, sie rennt,
Nur zu, nur fort, als wenn sie brennt,
Was sinds für Firlefanzen!
Die Wurst im Korb macht hoppsasa,
Die Eier hüpfen hopplala,
Und auch die Pomeranzen.

Wer weiß, wo jener Tanzplatz war:
In Kiel, in Rom, in Sansibar,
In Siebenbürgen, China?
Der Reim auf China liegt nicht fern:
Im Leben denk ich immer gern
Der kleinen Ballerina.

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Gedicht: Die Macht der Musik von Detlev von Liliencron

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Macht der Musik“ von Detlev von Liliencron beschreibt auf liebevolle, leichtfüßige Weise, wie Musik das Leben durchdringt und selbst das Alltägliche in einen Moment reiner Poesie verwandeln kann. Im Mittelpunkt steht ein kleines Mädchen, das beim morgendlichen Gang plötzlich von Militärmusik mitgerissen wird und spontan zu tanzen beginnt – ein Sinnbild für den unmittelbaren, körperlichen Einfluss von Musik.

Die Szene spielt früh am Morgen, in einer noch schlafenden, ruhigen Stadt. Diese friedliche Stille wird durchbrochen von der Regimentsmusik, die wie aus dem Nichts auftaucht. Der Kontrast zwischen der träumenden Stadt und dem schwungvollen Klang, der auf das Kind trifft, markiert einen Wendepunkt: Die Musik erweckt nicht nur das Mädchen, sondern gleichsam die Welt zu neuem Leben. Liliencron fängt diesen Moment mit feinem Gespür für Atmosphäre und Rhythmus ein.

Besonders eindrücklich ist die kindliche Reaktion: Die Kleine lässt ihren Einkaufskorb stehen und beginnt zu tanzen – ganz von der Musik eingenommen, instinktiv und ungehemmt. Der Reimfluss, die spielerischen Lautnachbildungen („klingklang rumbum“, „hoppsasa“, „hopplala“) und die beschwingten Verse spiegeln den Tanz selbst wider und lassen die Leichtigkeit des Moments spürbar werden. Das Gedicht lebt von dieser unbeschwerten Energie, in der sich Lebensfreude und kindliche Spontaneität vereinen.

Doch der Zauber dauert nicht ewig. Die Musik zieht weiter, und das Mädchen läuft ihr hinterher – ohne Rücksicht auf ihren Korb, die Wurst, die Eier oder die Pomeranzen. Der Realismus der letzten Strophe, mit dem Bild der hüpfenden Lebensmittel, bringt eine humorvolle Note in den Text, ohne den Zauber zu zerstören. Vielmehr wird damit gezeigt, wie tief und unwiderstehlich die Wirkung der Musik sein kann – selbst Ordnung und Zweckmäßigkeit treten in den Hintergrund.

Im Schlussteil weitet sich die Perspektive: Der Sprecher fragt sich, wo genau diese Szene eigentlich spielte – die genaue geografische Verortung verliert an Bedeutung. Stattdessen bleibt die Erinnerung, die „kleine Ballerina“, als poetisches Bild für die flüchtige, aber nachhaltige Macht der Musik. Liliencron gelingt mit diesem Gedicht eine zarte Hommage an die unmittelbare Wirkung künstlerischer Inspiration – ein kleines, heiteres Meisterstück über das Verzaubertwerden im Alltäglichen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.