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Ueber die deutsche Dichtkunst

Von

Hasch ihn, Muse, den erhabenen Gedanken –
Es sind ihrer nicht mehr,
Ihre Schwestern haben die Griechen und Römer
Und die Hetrurier weggehascht,
Und die meisten ergriffen die kühnen Britten,
Und Shakespeare an ihrer Spitze,
Und trugen sie alle fort wie der Sabiner sein Mädchen.
Mancher brauchte sie zum andernmal,
Aber sie waren nicht mehr Jungfraun.

O traure, traure Deutschland,
Unglücklich Land! zu lange brach gelegen!
Deine Nachbarinnen blühen um dich her voll Früchte
Wie goldbeladne Hügel um einen Morast,
Wie junge kinderreiche Weiber
Um ihre älteste Schwester,
Die alte Jungfer blieb.

O Homer, o Ossian, o Shakespeare,
O Dante, o Ariosto, o Petrarcha,
O Sophokles, o Milton, o ihr untern Geister –
O ihr Pope, ihr Horaz, ihr Polizian, ihr Prior, ihr Waller!
Gebt mir tausend Zungen für die tausend Namen,
Und jeder Name ist ein kühner Gedanke –
Ein Gedanke – tausend Gedanken
Unsrer heutigen Dichter werth.

Deutschland, armes Deutschland,
Die Kunst trieb kranke Stengel aus deinem Boden,
Höchstens matte Blüthen,
Die an den Aehren hingen vom Winde zerstreut,
Und in der Hülse, wenn’s hoch kam,
Zwei Körner Genie:
Wenn ich dichte und – –

O ich schmeichelte mir viel,
Als nur dunkles Morgenroth
Von dem braunen Himmel um mich lachte.
Junge Blume, so dacht‘ ich,
O was fühlst du für Säfte emporsteigen,
Welche Blume wirst du blühen am Tage,
Deutschlands Freude und Lieflands Stolz.

Als es aber Tag um mich ward,
Kroch meine Blüthe voll Schaam zurück,
Denn ich sah neben mir auf meinen Beeten Schwestern
Mit wohlriechenden Busen düften,
Mit bescheidener Röthe lächeln.

Aber als der Mittag nieder auf mich sah,
Und ich auf benachbarten Beeten
Fremder Blumen himmlische Zier
Mit englischem Aushauch verbunden erblickte,
Wunder den Augen, der Nase, den Sinnen,
Süßes Wunder selbst dem stolzen kalten Verstande.

O da fühlt ich auf einem Sandkorn
Stehn eine Wurzel, ein Regentropfe
Seyn alle meine Säfte, ein Schmetterlingsflügelstäubchen
Aller meiner Schönheit Zier! –

Nehmt sie an meine Zither
Eichen von Deutschland und laßt von Petrarchen
Einen Ton ihre schnarrenden Sayten berühren,
Daß er mir ein Grablied singe -!
Unberühmt will ich sterben,
Will in ödester Wüste im schwarzen Thale mein Haupt hin
Legen in Nacht, – kein Chor der Jünglinge soll um das Grab des Jünglings
Tanzen, keine Mädchen Blumen darauf gießen,
Kein Mensch soll drauf weinen Tränen voll Nachruhm,
Weil ich so verwegen, – so tollkühn gewesen
Weil auch ich es gewagt, zu dichten!

Und du, mein Genius, wenn Gott mich würdig hielt
Einen mir zum Geleit zu geben,
Schütze, treuer Gefährte des Lebens,
Schütze mein einsames Grab,
Daß kein Blick aus dem Reiche der Seeligen
Von Shakespeares brennendem Auge,
Oder dem düsterleuchtenden Auge Ossians,
Oder dem rothblitzenden Auge Homers,
Sich auf dasselbe verirre,
Damit sich meine Asche im Grabe nicht empöre
Für Schaam, daß auch ich einst wagte zu dichten!

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Gedicht: Ueber die deutsche Dichtkunst von Jakob Michael Reinhold Lenz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ueber die deutsche Dichtkunst“ von Jakob Michael Reinhold Lenz ist ein leidenschaftliches, polemisches und selbstkritisches Bekenntnis zur Misere der deutschen Literatur im Vergleich zu den großen Vorbildern der Weltliteratur. In pathetischer, fast verzweifelter Sprache verhandelt Lenz das Gefühl nationaler Rückständigkeit und dichterischer Unzulänglichkeit – sowohl im kollektiven als auch im persönlichen Maßstab.

Zu Beginn beklagt das lyrische Ich den Verlust der „erhabenen Gedanken“, die von anderen Nationen – insbesondere den Griechen, Römern und Briten – bereits „weggehascht“ wurden. Die Metapher vom Raub der Sabinerinnen dient hier als ironische Klage über den Diebstahl dichterischer Inspiration. Shakespeare erscheint dabei als überragender Genius, der sich wie ein Eroberer aller poetischen Möglichkeiten bemächtigt hat, während Deutschland leer ausgeht. Die deutsche Dichtung wird als alternde Jungfer dargestellt, fruchtlos und vergessen zwischen den blühenden Nationen ringsum.

In einem aufwühlenden Mittelteil beschwört Lenz die großen Namen der Weltliteratur – Homer, Dante, Shakespeare, Petrarca, Milton, Pope – und stellt ihnen die deutsche Dichtkunst gegenüber, die nur „kranke Stengel“ und „matte Blüthen“ hervorbringe. Dieses Bild evoziert eine sterbende oder niemals ganz erblühte Landschaft. In einer bewegenden Wendung schildert der Sprecher seine eigene Entwicklung: Anfangs noch hoffnungsvoll, fühlt er sich später beschämt angesichts der überlegenen Dichtung anderer Länder. Die Naturmetaphorik wird hier sehr intensiv: Die eigene Wurzel sitzt nur auf einem „Sandkorn“, ein einziger „Regentropfe“ nährt das kümmerliche Gewächs.

Besonders eindrücklich ist die letzte Passage, in der sich Lenz den Verzicht auf Ruhm wünscht. Er will unberühmt sterben, will keine Tränen, keine Blumen auf seinem Grab – als Strafe für seinen „tollkühnen“ Versuch, selbst zu dichten. Diese Geste ist zugleich Anklage, Demut und Trotz. Der Schluss ruft eine fast religiöse Ehrfurcht vor den großen Geistern hervor – Homer, Shakespeare, Ossian –, vor deren Blick selbst die Asche des Sprechers im Grab erzittern würde.

Lenz entwirft hier ein erschütterndes Zeugnis künstlerischer Selbstzweifel und einer tiefen nationalkulturellen Krise. Die Sprache ist pathetisch, bilderreich, oft sarkastisch, immer leidenschaftlich. Das Gedicht steht exemplarisch für das Lebensgefühl des Sturm und Drang: das Streben nach Größe, die Verehrung des Genies, aber auch die existenzielle Verzweiflung am eigenen Scheitern.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.