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Der verlorne Augenblick, die verlorne Seeligkeit

Von

Von nun an die Sonne in Trauer,
Von nun an finster der Tag,
Des Himmels Thore verschlossen!
Wer ist der wieder eröffnen
Mir wieder entschließen sie mag?
Hier ausgesperret, verloren,
Sitzt der Verworfne und weint,
Und kennt im Himmel, auf Erden
Gehäßiger nichts als sich selber,
Und ist im Himmel, auf Erden
Sein unversöhnlichster Feind.

Aufgiengen die Thore,
Ich sah die Erscheinung.
Und war’s kein Traum?
Und war’s so fremd mir? –
Die Tochter, die Freude,
Der Segen des Himmels,
In weißen Gewölken
Mit Rosen umschattet,
Duftete sie hinüber zu mir.
In Liebe hingesunken,
Wie schrecklich in Reizen geschmückt,
Schon hatt‘ ich so selig, so trunken
Fest an mein Herz sie gedrückt.
Ich lag im Geist ihr zu Füßen,
Mein Mund schwebt‘ über ihr –
Ach! diese Lippen zu küssen
Und dann mit ewiger Müh
Den süßen Frevel zu büßen! –

In dem einzigen Augenblick,
Große Götter! was hielt mich zurück?

Kommt er nicht wieder? –
Er kehrt nicht wieder,
Ach er ist hin, der Augenblick
Und der Tod mein einziges Glück! –

Daß er käme! –
Mit bebender Seele
Wollt‘ ich ihn faßen,
Wollte mit Angst ihn
Und mit Entzücken
Halten ihn, halten
Und ihn nicht laßen,
Und drohte die Erde mir
Unter mir zu brechen,
Und drohte der Himmel mir,
Die Kühnheit zu rächen –
Ich hielte, ich faßte dich,
Heilige, Einzige,
Mit all deiner Wonne,
Mit all deinem Schmerz!
Presst‘ an den Busen dich,
Sättigte einmal mich –
Wähnte du wärst für mich –
Und in dem Wonnerausch,
In den Entzückungen,
Bräche mein Herz!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der verlorne Augenblick, die verlorne Seeligkeit von Jakob Michael Reinhold Lenz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der verlorne Augenblick, die verlorne Seeligkeit“ von Jakob Michael Reinhold Lenz thematisiert den schmerzlichen Verlust einer einmaligen Chance auf Glück und die lebenslange Reue, die daraus erwächst. In leidenschaftlicher, fast visionärer Sprache beschreibt das lyrische Ich den Augenblick höchster seelischer und sinnlicher Erfüllung, der jedoch ungenutzt vergeht – ein Moment, der für immer verloren bleibt und in dessen Schatten nun das gesamte Leben steht.

Bereits in der ersten Strophe herrscht eine apokalyptische Stimmung: Die Sonne steht in Trauer, der Tag ist finster, die „Thore des Himmels“ sind verschlossen. Diese Bildwelt verweist auf eine existenzielle Verzweiflung – der verlorene Augenblick hat eine so gewaltige Wirkung, dass er das ganze Leben entwertet. Das lyrische Ich fühlt sich „ausgesperret“ und „verworfen“, es sieht in sich selbst seinen schlimmsten Feind. Der innere Konflikt steigert sich zur Selbstverachtung, was die existenzielle Tragweite der verpassten Chance unterstreicht.

In einer Rückblende wird dann der Augenblick selbst geschildert: eine Erscheinung von betörender Schönheit, fast engelsgleich, taucht auf – eine Gestalt, die Liebe, Freude und Segen verkörpert. Die Nähe zu ihr wird als überwältigend geschildert, der Wunsch nach Vereinigung ist intensiv, beinahe mystisch. Doch obwohl der Moment zum Greifen nah ist, hält sich das lyrische Ich zurück – warum, bleibt unklar. Diese Selbsthemmung wird zum tragischen Drehpunkt des Gedichts.

Der Rest des Textes ist durchdrungen von der Qual darüber, dass dieser Moment nicht wiederkehrt. Die Reue und das Verlangen nach Wiederholung steigern sich ins Maßlose, gipfeln in der Vorstellung, lieber beim erneuten Erleben vor Entzückung zu sterben, als nochmals zu zögern. Die Intensität dieses Wunsches zeigt, wie sehr das ganze Leben des lyrischen Ichs von dieser einen verpassten Erfahrung überschattet ist.

Lenz thematisiert mit diesem Gedicht die Flüchtigkeit des Glücks, die Unumkehrbarkeit der Zeit und die Tragik menschlicher Hemmung. Es ist eine leidenschaftliche Anklage gegen das eigene Zögern, ein ekstatischer Schrei nach gelebter Erfüllung und zugleich ein tiefer Ausdruck von Schuld und Verzweiflung – ein psychologisch dichter Monolog über Sehnsucht, Selbstverlust und die zerstörerische Macht des verpassten Augenblicks.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.