Weil‘ auf mir, du dunkles Auge,
Uebe deine ganze Macht,
Ernste, milde, träumerische,
Unergründlich süße Nacht!
Nimm mit deinem Zauberdunkel
Diese Welt von hinnen mir,
Das du über meinem Leben
Einsam schwebest für und für.
Weil‘ auf mir, du dunkles Auge,
Uebe deine ganze Macht,
Ernste, milde, träumerische,
Unergründlich süße Nacht!
Nimm mit deinem Zauberdunkel
Diese Welt von hinnen mir,
Das du über meinem Leben
Einsam schwebest für und für.
Das Gedicht „Bitte“ von Nikolaus Lenau ist ein kurzer, intensiver Ausdruck des Wunsches nach Rückzug aus der Welt und völliger Hingabe an die Nacht. In nur zwei Strophen verdichtet sich eine tiefe Sehnsucht nach Vergessen, Trost und vielleicht auch Erlösung. Die Nacht erscheint dabei nicht nur als äußeres Naturphänomen, sondern als seelisch aufgeladene Kraft – fast wie eine geliebte Gestalt oder eine höhere Macht.
Schon der erste Vers richtet sich direkt an die Nacht: „Weil‘ auf mir, du dunkles Auge“ – hier wird die Nacht personifiziert, mit einem Auge verglichen, das mit stiller Intensität auf das Ich blickt. Der Ausdruck „übe deine ganze Macht“ deutet darauf hin, dass das lyrische Ich sich dieser Macht freiwillig ausliefern will. Es bittet nicht um Licht, sondern um die ganze Fülle des Dunkels: „ernste, milde, träumerische, / unergründlich süße Nacht“. Die Aufzählung zeigt die vielschichtige Bedeutung der Nacht für das Ich – sie ist ernst und träumerisch zugleich, schmerzlich und tröstlich.
In der zweiten Strophe wird die Bitte eindringlicher: Die Nacht soll mit ihrem „Zauberdunkel“ die Welt „von hinnen“ nehmen – also sie dem Ich entziehen. Dies ist kein Wunsch nach Schlaf im wörtlichen Sinne, sondern ein tieferer Wunsch nach Abschottung, nach innerem Frieden, der nur im völligen Rückzug von der äußeren Welt zu finden scheint. Dass die Nacht „einsam schwebest“ über dem Leben des lyrischen Ichs, unterstreicht die Idee von bleibender Distanz zur Welt und einer dauerhaften seelischen Verbundenheit mit der Nacht.
„Bitte“ ist somit ein inniger, melancholischer Appell an die Nacht, nicht als Bedrohung, sondern als zärtliche, umfassende Macht. In der romantischen Tradition verortet, spiegelt das Gedicht Lenaus typisch spätromantisches Lebensgefühl: Weltmüdigkeit, das Bedürfnis nach Stille und die Suche nach Trost in der Natur und im Dunkel – nicht als Negation des Lebens, sondern als seelischer Schutzraum.
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